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Full text of "Die Erkenntnislehre Olivis, auf Grund der Quellen"

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Bernhard  Jansen  S.  J. 
Die  Erkenntnislehre  Olivis. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/dieerkenntnislehOOjans 


DIE 

ERKENNTNISLEHRE 

OLIVIS. 


AUF  GRUND  DER  QUELLEN  DARGESTELLT 

UND  GEWÜRDIGT 


VON 


BERNHARD  JANSEN  S.  J. 


BERLIN  I92I 
FERD.  DÜMMLERS  VERLAGSBUCHHANDLUNG. 


UÜltS 


6  3^7 


Dem  hochverdienten  Erforscher 

der  Geschichte  der  mittelalteriichen  Philosophie, 

dem  anregenden  und  hingebenden  Lehrer 

Clemens  Baeumker 

in  Verehrung  und  Dankbarkeit. 


Yorwort 


Gegenwärtige  Ausführungen  bezwecken  zunächst,  einen 
lange  verschollenen  Denker  in  einem  neuen  Lichte 
darzustellen.  Auf  Grund  der  Quellen  werden  die 
verschiedenen  Linien  seiner  Erkenntnislehre  zu  einem  Ge- 
samtbild vereinigt. 

Auf  die  Darlegung  folgt  die  Stellung  zu  Vorgängern 
und  Zeitgenossen  und  die  Einwirkung  auf  spätere  Denker. 
Für  Olivi  kommt  vor  allem  sein  Verhältnis  zu  Augustinus  und 
zum  Augustinismus,  besonders  zur  älteren  Franziskanerschule, 
in  betracht.  Umgekehrt  bietet  seine  bald  schroff  ablehnende, 
bald  wiederum  freundliche  Stellung  zu  Aristoteles  und  zum 
fortschrittlichen  Aristotelismus  seiner  Zeit,  namentlich  zu 
seinem  vornehmsten  Vertreter,  Thomas  v.  Aquin,  vielfache 
Beize.  Überraschend  dürfte  den  meisten  Lesern  der  empi- 
rische Zug  in  dem  bisherigen  Charakterbild  des  kühnen 
Metaphysikers  und  Verteidigers  der  befremdlichen  Infor- 
mationslehre sein:  wie  seine  Ordensgenossen  Roger  Bacon 
und  John  Pecham  hat  Olivi  die  Optik  Alhazens  für  seine 
Erkenntnislehre  dienstbar  gemacht.  —  Was  weiterhin  seine 
Übereinstimmung  und  seinen  Einfluß  auf  spätere  Denker 
betrifft,  so  ist  unstreitig  seine  Colligantia-Lehre  von  Bedeu- 
tung, ihre  Einwirkung  auf  Suarez  und  die  von  ihm  abhängigen 
Philosophen  wäre  ein  näherer  Untersuchung  würdiger  Gegen- 
stand. Die  Ablehnung  jedweder  dem  Erkenntnisakt  voraus- 
gehenden Species  begegnet  uns,  soweit  wir  feststellen  können, 
im  dreizehnten  Jahrhundert  bei  Olivi  zum  erstenmal  und  zeigt 
ihn  damit  als  Vorläufer  der  Nominalisten  des  vierzehnten 
Jahrhunderts. 

Auf  die  Darstellung  und  genetische  Erklärung  folgt 
letztlich  die  Würdigung.   Unser  Bemühen  ging  dahin,  eyste- 


m 


Till  Vorwort 

matisch  und  historisch  Wertvolles  zu  unterscheiden.  Vor 
allem  aber  wurde  das  philosophisch  Bedeutsame  aus  dem 
umgebenden  Beiwerk  des  Verfehlten  herausgehoben. 

Dank  der  Einzelforschung  und  der  auf  ihr  aufbauenden 
Gesamtdarstellung  der  Scholastik  in  den  letzten  Jahrzehnten, 
zum  Teil  auch  infolge  der  erfreulichen  Rückkehr  der  Jetzt- 
zeit zum  Realismus  und  zur  Metaphysik  haben  weitere,  anders 
denkende  philosophische  Kreise  begonnen,  eine  alte  Schuld 
abzutragen  und  auch  der  mittelalterlichen  Geistesarbeit  eine 
gerechtere  Beurteilung  zukommen  zu  lassen.  Dem  Verfasser 
lag  es  auch  bei  dieser  Gelegenheit  daran,  ein  wenig  zum 
besseren  Verständnis  der  großen  Vorzeit  beizutragen.  Aus 
diesem  Bestreben  heraus  wollen  die  gelegentlichen  Hinweise 
auf  das  Neuzeitliche  in  Olivis  Erkenntnislehre  und  Denk- 
richtung verstanden  sein:  mehr  noch  als  durch  das  Inhalt- 
liche seiner  Ausführungen  zeigt  er  sich  durch  seine  selb- 
ständige, energische  Inangriffnahme  der  philosophischen 
Erkenntnisfragen  und  durch  seine  kritische  Stellung  zu  den 
philosophischen  Problemen  überhaupt  dem  heutigen  Denken 
verwandt. 

Es  ist  mir  ein  Bedürfnis,  auch  an  dieser  Stelle  dem 
hochverehrten  P.  Franz  Ehrle  für  seine  ungezählten  liebens- 
würdigen Bemühungen,  mit  denen  er  seit  Jahren  meine 
Olivi-Forschungen  unterstützt  hat,  den  gebührenden  Dank 
auszusprechen. 

Desgleichen  habe  ich  Herrn  Professor  Martin  Grabmann 
und  P.  Franz  Polster  für  mannigfache  Anregungen  zu  danken. 

Wenn  ich  diese  Arbeit  Herrn  Geheimrat  Clemens 
Baeumker  widme,  so  soll  das  ein  Dankeszeichen  sein  für 
das  viele,  das  ich  diesem  verdienten  Gelehrten  und  hin- 
gebenden Lehrer  in  philosophiegeschichtlicher  Beziehung 
persönlich  schulde. 

Dem  hochherzigen,  opferwilligen  Entgegenkommen  des 
Verlags  verdanke  ich  die  Ermöglichung  der  Drucklegung 
dieser  Schrift. 

Valkenburg  (Holland),  Ignatius-Kolleg,  Mai  1921. 

Bernhard  Jansen  S.  J. 


Verzeichnis  der  wiederholt  angeführten  Schriften. 

(Die  nur  das  ein  oder  andere  mal  herbeigezogenen  Schriften  werden, 
in  den  betreffenden  Treten  genau  angegeben.) 


Augustinus,  Pseudo-Dionysius  und  die  Scholastiker  werden  in  der 
tlblichen  Weise,  Piaton  nach  der  Stephanus-Einteilung,  Aristo- 
teles nach  der  Bekker  (Berliner)  Ausgabe  zitiert, 

Alhazen,  Thesaurus  Opticae,  ed.  Fr.  Risner,  Basileae  1672,  zusammen 
mit  Witelo:  Item  Yitellionis  Turingopoloni  libri  X. 

Anecdota  quaedam  de  humanae  cognitionis  ratione  Sancti  Bonaven- 
turae  et  nonnullorum  ipsius  discipulorum  edita,  Ad  aquas  claras 
(Quaracchi)  1883. 

Aquasparta,  Matthaeus:  Quaestiones  disputatae  selectae,  tom.  I.  Quae- 
stiones  de  fide  et  cognitione,  Ad  aquas  claras  (Quaracchi)  1908. 

Bacon  Roger:  De  multiplicatione  specierum  zusammen  mit  der  Per- 
spectiva  (V.  Teil  des  Opus  malus),  herausgegeben  von  John 
Henry  Bridges,  2.  vol.,  Oxford  1897. 

Baeumker,  Clemens:  Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des 
Mittelalters.  Texte  u.  Untersuchungen.  (Sammelwerk.)  Münster 
i.  W.  —  Die  einzelnen  Bände  werden  unter  dem  IS'amen  des 
betreffenden  Verfassers  aufgezählt. 

—  Witelo,  ein  Philosoph  und  ^Naturforscher  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts, (Beiträge  III,  2),  1908. 

—  Die  christliche  Philosophie  des  Mittelalters,  in  Die  Kultur  der 
Gegenwart,  herausgegeben  von  Paul  Hinneberg,  I.  Teil,  V. 
Abtlg.,  2.  Aufl.,  Leipzig  1913,  S.  338—431. 

—  Festgabe  zum  60.  Geburtstag,  gewidmet  von  seinen  Schülern 
und  Freunden,  (Beiträge  Supplementband),  1913. 

—  Der  Piatonismus  im  Mittelalter,  München  1916. 

—  Roger  Bacons  Naturphilosophie  (Franziskanische  Studien,  3.  Bd. 
fl916J,  Münster  i.  W.,  S.  1-40,  109-139). 

—  Die  Stellung  des  Alfred  von  Sareshel  (Alfredus  .Anglicus)  und 
seiner  Schrift  De  motu  cordis  in  der  Wissenschaft  des  beginnen- 
den XIII.  Jahrhunderts,  München  1913. 


Literaturverzeichnis 


Bardenhewer,  Otto,  siehe  Liber  de  causis. 

Bauer,  Hans:  Die  Psychologie  Alhazens,  (Beiträge  X,  5),  1911. 
Baumgartner,   Matthias:    Die  Erkenntnislehre    des   Wilhelm    von    Au* 
vergne,  (Beiträge  II,  1),  1893. 

—  Zur  thomistischen  Lehre  von  den  ersten  Prinzipien  der  Er- 
kenntnis, in  V.  Hertling-Festschrift,  S.  1 — 17. 

—  Zum  thomistischen  Wahrheitsbegriff,  in  Baeumker-Eestschrift, 
(Beiträge  Supplemeniband),  S.  241—261.  —  Siehe  Ueberweg. 

Baur,    Ludwig:    Die    Philosophie    des    Robert  Grosseteste,   (Beiträge 

XVIII,  4—6),  1917.  —  Siehe  Grosseteste. 
Bonaventura,  siehe  Anecdota. 

Chatelain,  lllmile,  siehe  Denifle. 
Correctorium,  siehe  Wilhelm  de  la  Mare. 

Daniels,  Augustin:  Anselm-Zitate  bei  dem  Oxforder  Franziskaner  Boger 

von    Marston    (Theol.   Quartal schrift,    Tübingen,    93.  Bd.    [1911], 

S.  35-59.) 
Denifle,    Heinrich,    und  Chatelain,    Emile:    Chartularium  Universitatis 

Parisiensis,  t.  I,  Paris  1889.  —  Siehe  Ehrle. 
Dictionnaire    de   theologie   catholique,    herausgegeben   von  A.  Vacant 

u.  E.  Mangenot,  Paris  1903  if.   —    Siehe  Mandonnet  u.  Portali6. 
Dietrich  v.  Ereiberg,  siehe  Krebs  und  Würschmidt. 

Dreiling,  Raymundus:  Der  Konzeptualismus  in  der  Universalienlehre 
des  Franziskanerbischofs  Petrus  Aureoli,  (Beiträge  XI,  6),  1913. 

Ehrle,  Franz:  Archiv  fdr  Litteratur-  und  Kirchengeschichte  des  Mittel- 
altere,   herausgegeben  zusammen   mit  Heinrich  Denifle,    Berlin, 
3.  Bd.  (1887),  Petrus  Joh.  Olivi,  sein  Leben  und  seine  Schriften, 
•  S.  409—558;  5.  Band  (1889),  Beiträge  zur  Geschichte  der  mittel- 
alterlichen Scholastik,  S.  603—635. 

—  Das  Studium  der  Handschriften  der  mittelalterlichen  Scholastik 
(Zeitschr.  f.  kath.  Theologie,  Innsbruck,  7.  Bd.  [1883],  S.  1—51). 

—  Zur  Geschichte  der  Scholastik  im  13.  Jahrhundert.  (Ebenda, 
13.  Bd  [18891,  S.  172-193). 

—  Der  Kampf  um  die  Lehre  des  hl.  Thomas  von  Aquin  in  den 
ersten  fünfzig  Jahren  nach  seinem  Tod  (Ebenda,  37.  Bd.  [1913], 
S.  266-318). 

Eisler,  Rudolf,  siehe  de  Wulf. 

Fischer,  Joseph:  Die  Erkenntnislehre  Anselms  von  Canterbnry,  (Bei- 
träge X,  3),  1911. 

Frick,  Karl,  siehe  Posch. 

Fröbes,  Joseph:  Aus  der  Vorgeschichte  der  psychologischen  Optik,  in 
Zeitschrift  für  Psychologie,  Leipzig,  85.  Bd.  (1920). 


Literaturverzeichnis  XT 


QauI,    Leopold:    Alberta    des   Großen  Verhältnis  zu  Plato,    (Beiträge 

XII,  1),  1914. 
öeyser,  Joseph :  Die  Erkenntnistheorie  des  Aristoteles,  Münster  i.  W. 

1917. 

—  Grundlegung  der  Logik  u.  Erkenntnistheorie,  Mtlnster  i.  W.  1919. 
Orabraann,   Martin:    Die  philosophische  und  theologische  Erkenntnis- 
lehre des  Kardinals  Matthäus  von  Aquasparta,  Wien  1906. 

—  Die  Disputationes  raetaphysicae  des  Franz  Suarez  in  ihrer  me- 
thodischen Eigenart  und  FortTvirkung,  in  P.  Franz  Suarez  S.  J. 
Gedenkblätter  zu  seinem  300jährigen  Todestag,  Innsbruck  1917. 

Guttmann,  Jacob:  Die  philosophischen  Lehren  des  Isaak  ben  Salomon 

Israeli,  (Beiträge  X,  4),  1911. 
Grosseteste,  Robert:    Die  philosophischen  Werke.     Zum   ersten   Male 

vollständig   in  kritischer  Ausgabe  von  LudTvig  Baur,  (Beiträge 

IX),  1912. 

Heinrich  von  Gent,  siehe  de  Wulf. 

V.  Hertling,  Georg:  Augustinus-Zitate  bei  Thomas  v.  Aquin,  München 
1904. 

—  Wissenschaftliche  Richtungen  und  philosophische  Probleme  im 
13.  Jahrhundert,  München  1910. 

—  Festgabe  zum  70.  Geburtstag,  gewidmet  von  seinen  Schülern 
und  Yerehrern,  Freiburg  i.  Br.  1913. 

Horten,  Max:  Das  Buch  der  Ringsteine  Färäbis,  (Beiträge  V,  3),  1906. 
Höver,  Hugo:  Roger  Bacons  Hylomorphismus,  Limburg  a.  Lahn  1912. 
^u8serl,  Edmund:    Logische  Untersuchungen,  2  Bde.,  Halle  a.  Saale, 
1.  Aufl.  1900/1901,  2.  Aufl.  1913. 

Jansen,  Bernhard :  Die  handschriftliche  Überlieferung  der  spekulativen 
Schriften  Olivis  (Philos.  Jahrbuch,  Fulda,  31.  Bd.  [1918],  S.  141 
-164). 

—  Ein  neuzeitlicher  Anwalt  der  menschlichen  Freiheit  aus  dem 
13.  Jahrhundert:  Petrus  Joh.  Olivi  (Ebenda,  S.  230—238,  382 
—408). 

—  Olivi  der  älteste  scholastische  Vertreter  des  heutigen  Bewegungs- 
begriffs  (Ebenda,  33.  Bd.  [1920],  S.  137—152). 

—  Die  Lehre  Olivis  über  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele 
(Franziskanische  Studien,  Münster  i.  W.,  5.  Bd.  [1918],  S.  153 
—175,  233-258). 

—  Petrus  Johannis  Olivi.  Ein  lange  verschollener  Denker  (Stim- 
men der  Zeit,  Freiburg  i.  Br.,  96.  Band  [1918],  S.  105—118). 

—  Quonam  spectet  definitio  Concilii  Viennensis  de  anima  (Grego- 
rianum,  Roma,  I  [1920],  p.  78—90). 

—  Leibniz,  erkenntnistheoretischer  Realist,  Berlin  1920. 

Kleutgen,  Joseph:  Die  Philosophie  der  Vorzeit,  2  Bde.,  2.  Aufl.,  Inns- 
bruck 1878. 


XII  Literaturverzeichnis 


Krebs,  Engelbert:   Meister  Dietrich,   Sein  Leben,  seine  Werke,   seine^ 

Wissenschaft,  (Beiträge  V,  5—6),  1906. 
Kugler,  Lothar:  Der  Begriff  der  Erkenntnis  bei  Wilhelm  t.  Ockham,^ 

Breslau  1913. 

Lappe,  Joseph:  IN'icolaus  von  Autrecourt.  Sein  Leben,  seine  Philo- 
sophie, seine  Schriften,  (Beiträge  VI,  2),  1908. 

Liber  de  causis  (Die  pseudo-aristotelische  Schrift  Über  das  reine  Gute), 
bearbeitet  von  Otto  Bardenhewer,  Freiburg  i.  Br.,  1882. 

Lutz,  Eduard:  Die  Psychologie  Bonaventuras,  (Beiträge  YI,  4 — 5),  1909. 

Mandonnet,  Pierre:   Siger  de  Brabant  et  l'averroisme  latin,  2  parties^ 
2.  ed ,  Louvain  1911. 
—     Fräres-Pröcheurs,  in  Dictionnaire  de  th6ologie  catholiqne,  heraus- 
gegeben von  A.  Vacant  und  E.  Mangenot,  Paris  1920. 

Minges,  Parthenius:  Skotistisches  bei  Richard  von  Media villa  (TheoL 
Quartalsschrift,  Tübingen,  99.  Bd.  [1917],  S.  60—79). 

Pecham,  Johannes:   Quaestiones  tractantes  de  anima,  ed.  Hieron jmus 

Spettmann,  (Beiträge  XIX,  5—6),  1918. 
Posch,  Tilmannus  —  Frick,  Carolus:  Institutiones  Logicae  et  Ontologicae, 

2.  ed.,  t.  1,  Friburgi  Br.  1914. 

Kisner,  Fr.,  siehe  Alhazen. 

Siebeck,  Hermann:  Geschichte  der  Psychologie,  Gotha  1880/1884. 

Schneider,  Arthur:  Die  Psychologie  Alberts  des  Großen,  2  Teile,  (Bei- 
träge IV,  5-6),  1903/1906. 

Spettmann,  Hieronyraus:  Die  Psychologie  des  Johannes  Pecham,  (Bei- 
träge XX.  6),  1919.  —  Siehe  Pecham. 

Stockt,  Albert:  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters,  1.  Bd., 
Periode  der  Entstehung  und  allmählichen  Ausbildung  der  Scho- 
lastik, Mainz  1864;  2.  Bd.,  Periode  der  Herrschaft  der  Scho- 
lastik, Mainz  1865. 

Ueberweg,  Friedrich:  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie  der 
patristischen  und  scholastischen  Zeit  (2.  Bd.),  vollständig  neu 
bearbeitet  und  stark  vermehrt  von  Matthias  Baumgartner, 
10.  Aufl.,  Berlin   1915. 

Werner,  Karl:  Die  Psychologie  des  Wilhelm  von  Auvergne,  Wien  1873. 
Wilhelm    de   la  Mare:    Oorrectorium    fr.  Thomae,    zusammen  mit  dem 

Defensorium  seu  Oorrectorium  . . .  Aegidii  Bomani,  Venetiis  1516. 
Witelo  (Vitellio),  siehe  Alhazen. 
Würsdorfer,  Joseph :  Erkennen  und  Wissen  nach  Gregor  von  Bimini, 

(Beiträge  XX,  1),  1917. 


LiteraturTerzeichnis  XIII 


Würschmidt,  Joseph:  Dietrich  von  Freiberg  über  den  Begenbogen 
und  die  durch  Strahlen  erzeugten  Bindrücke,  (Beiträge  XII, 
5-6),  1914. 

de  Wulf,  Maurice:  Histoire  de  la  philosophie  medievale,  4.  6d.,  Louvain 
und  Paris  1912;  deutsch  von  Rudolf  Eisler,  Tübingen  1913. 

—  ifitudes  sur  Henri  de  Gand,  Louvain  und  Paris  1894. 

Zeller,  Eduard:  Die  Philosophie  der  Griechen,  2.  Teil,  1.  Abtlg., 
3.  Aufl.,  Leipzig  1875;   2.  Teil,  2.  Abtlg.,  3.  Aufl.,   Leipzig  1879. 

Zigliara,  Thomas  Maria:  De  mente  Concilii  Yiennensis,  Roma  1878. 

Zisch6,  Karl:  Die  Lehre  von  Materie  und  Form  bei  Bonaventura 
(Philos.  Jahrbuch,  Fulda,  13.  Bd.  [1900],  S.  1—21.) 

—  Die  ISTaturlehre  Bonaventuras  (Ebenda,  21.  Bd.  [1908],  8.56—89, 
156—189). 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Vorwort VII 

Literaturverzeichnis IX 

Inhaltsverzeichnis XV 

1.  Kapitel:    Die  scholastische  Erkenntnislehre  des  dreizehnten 

Jahrhunderts 1 


2.  Kapitel 

3.  Kapitel 

4.  Kapitel 

5.  Kapitel 

6.  Kapitel 

7.  Kapitel 

8.  Kapitel 

9.  Kapitel 

10.  Kapitel 

11.  Kapitel 

12.  Kapitel 

13.  Kapitel 


Die  philosophische  Eigenart  Olivis 10 

Die  literarische  Überlieferung  seiner  Erkenntnislehre  21 

Die  Grundlinien  seiner  Psychologie      32 

Der  Begriff  der  Erkenntnis  und  der  Wahrheit  4! 

Die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntnisvorgang  .  49 

Die  Verwerfung  der  Species 64 

Das  virtuelle  Berühren  des  Gegenstandes 72 

Die  CoUigantia  der  Seelenkräfte 76 

Das  sinnliche  Erkennen      91 

Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennens 98 

Die  Selbsterkenntnis  der  Seele 112 

Abschließende  Würdigung 117 


Personenverzeichnis 


123 


1.  Kapitel. 

Die  scholastische  Erkenntnislehre  des  dreizehnten 

Jahrhunderts. 

Die  Eigenart  und  Entwicklung  der  Philosophie  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  ist  dank  der  Spezialforschungen  der 
letzten  Jahrzehnte  immer  deutlicher  und  schärfer  vor  uns 
getreten.  Die  besondere  Note  erhalten  die  einzelnen  Denker 
und  Schulen  dieser  Zeit  durch  ihre  Stellung  zum  herge- 
brachten Augustinismus  und  zum  immer  mehr  vordringen- 
den Aristotelismus  ^).  Gemäß  den  allgemeinen  Gesetzen  jeder 
organischen  Entwicklung  des  Geisteslebens  und  entsprechend 
der  bedächtigen,  konservativen  Art  der  Scholastik  zeigt  sich 
dieser  Werdegang  als  ein  seit  langem  vorbereiteter.  Ein  cha- 
rakteristischer Zug  in  diesem  Prozeß  ist  das  Bestreben,  das 
Neue  harmonisch  mit  dem  Alten  auszugleichen,  auch  auf 
die  Gefahr  hin,  daß  der  neue  Wein  die  veralteten  Schläuche 
zu  zerreißen  droht.  Abgesehen  von  der  konkordistischen 
Denkart  und  dem  Mangel  an  historischer  Kritik  des  Mittel- 
alters ist  dieses  Bemühen  in  der  großen  Achtung  begründet, 
die  jene  Zeit  der  wissenschaftlichen  Autorität  entgegenbrachte. 
Speziell  duldete  es  das  alles  überragende  Ansehen  des  gro- 
ßen Augustinus  nicht,  daß  man  offen  von  seinen  Ansichten 
abwich  und  dieses  noch  gar  auszusprechen  wagte.  Daher 
der  merkwürdige  Ausgleich  versuch,  der  unser  modernes  syste- 
matisches  Denken   ebenso   befremdet   wie   unser   geschieht- 


1)  Vgl.  Ueberweg-Baumgartner,  Grundriß  der  Geschichte  der 
Philosophie,  besonders  §§  35—40;  de  Wulf,  Histoire  de  la  philos.  m6di6v., 
besonders  pp.  316 — 466,  übersetzt  Ton  Eisler,  S.  257  ff. ;  Ehrle,  Archiv, 
Bd.  Y  S.  603  ff.  u.  Zeitschrift  f.  kath.  Theologie,  Bd.  13  S.  172  ff., 
Bd.  37  S.  266-318. 

1 


2  1.  Kapitel 

liches  :  Augustinus  mit  Aristoteles  in  Einklang  zu  bringen  *). 
Daher  zweitens  der  lange  und  scharf  geführte  Kampf  der 
verschiedenen  philosophischen  Richtungen  um  die  Vorherr- 
schaft des  einen  oder  des  andern  2). 

Augustinismus  ^)  und  Aristotelismus  besagen  indes  trotz 
aller  Schätzung  der  wissenschaftlichen  Autorität  kein  Auf- 
geben persönlicher  Eigenart,  individuellen,  kritischen  Weiter- 
denkens und  Aufsteilens  selbständiger  Theorien*).  In  vielen 
Fragen  bedeutet,  um  von  andern  Denkern  zu  schweigen, 
Thomas  v.  Aquin  einen  ganz  bedeutenden  Fortschritt  über 
Piaton,  Aristoteles  und  Augustinus  hinaus.  Scholastiker  wie 
Roger  Bacon,  Gottfried  v.  Fontaines  und  Scotus  verraten 
eine  stark  persönliche  Eigenart. 

Im  Mittelpunkt  der  philosophischen  Diskussion  stand 
neben  der  Einheit  bzw.  Mehrheit  der  Formen  in  den  Lebe- 
wesen und  der  Deutung  der  Stoisch-augustinischen  Keim- 
kräfte bzw.  der  Aristotelischen  Materie  ^)  die  Erkenntnislehre. 


1)  V.  Hertling,  Augustinus-Zitate  bei  Thomas  v.  Aquin  ;  S.  Thomas, 
S.  th.,  I  q.  84.  a.  5. 

2)  Den  lebhaftesten  Ausdruck  findet  dieser  Kampf  in  der  sog. 
Korrektorienliteratur :  W.  de  la  Mare,  Correctorium  fr.  Thomae,  worin 
zugleich  das  Correctorium  Oorruptorii  fr.  Thomae  d.h.  die  Widerlegung 
des  W.  de  la  Mare  abgedruckt  ist ;  vgl.  Ehrle,  Der  Kampf  um  die  Lehre 
des  hl.  Thomas  v.  Aquin  (Zeitschr.  f.  kath.  Theol.,  Bd.  37  S.  266-318). 

^3)  Die  frühere  Darstellung  der  Scholastik  hat  die  Bedeutung  der 
Platonisch-augustinischen  Gedankenmotive  für  die  Hochscholastik  zu 
wenig  berücksichtigt  oder  auch  unterschätzt;  anders  die  neueste  For- 
schung, vor  allem  ist  es  das  Verdienst  Baeumkers,  diese  scharf  her- 
ausgearbeitet zu  haben;  A'gl.  dessen  Witelo  und  Der  Piatonismus  im 
Mittelalter,  ferner  Gaul,  Alberts  des  Gr.  Verhältnis  zu  Plato. 

4)  Baeiiraker,  Die  christliche  Philosophie  des  Mittelalters;  der- 
selbe, Die  Stellung  des  Alfred  von  Sareshel,  S.  3ff. ;  ebenso  Ueberweg- 
ßaumgartner,  S.  198  ff. 

5)  Vgl.  Correctorium,  art.  31  f.  18  sq. ;  Ehrle,  Archiv,  Bd.  V  S.  603  ff. ; 
vgl.  die  Bonaventura-Ausgabe  zu  Sent.,  II  dist.  III  p.  I  art.  Iq  1  3; 
Zischö,  Die  Lehre  von  Materie  und  Form  bei  Bonaventura;  derselbe, 
Die  T^aturlehre  Bonaventuras ;  Mandonnet,  Siger  de  Brabant,  1.  partie 
p.  107.  129,  214  sqq. :  Schneider,  Die  Psychologie  Alberts  d.  Gr.,  S.  39 ff.; 
Höver,  Koger  Bacons  Hylomorphismus ;  Baeumker,  Roger  Bacons  Na- 
turphilosophie;  Jansen.  Die  Lehre  Olivis  über  das  Verhältnis  von 
Leib  und  Seele. 


Die  scholastische  Erkenntnislehre  des  dreizehnten  Jahrhunderts      3 


Freilich  darf  man  dabei  nicht  an  modern  gehaltene  kritische 
Untersuchungen  über  die  Geltung  unserer  Vorstellungen, 
tlber  das  Ding  an  sich,  die  Möglichkeit  der  Metaphysik,  die 
Existenz  der  Außenwelt  denken.  Diese  liegen  der  vorwiegend 
dogmatisch-metaphysischen  Denkrichtung  jener  Zeit  im  all- 
gemeinen fern,  wenngleich  sich  bereits  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert Ansätze  zu  erkenntnistheoretischen  Betrachtungen 
finden  und  vollends  im  Nominalismus  der  spätem  Scholastik, 
etwa  bei  Wilhelm  von  Occam  und  Nikolaus  von  Autrecourt, 
Untersuchungen  zutage  treten,  die  an  Hume  und  andere 
neuzeitliche  Kritiker  erinnern  ^). 

Es  ist  vielmehr  die  psychologische  Seite,  die  Untersuch- 
ung über  den  Ursprung  des  Erkennens,  insbesondere  des 
höheren,  welche  die  Geister  jahrzehntelang  in  Spannung 
hält  und  hart  aufeinander  stoßen  läßt.  Naturgemäß  geht 
diese  Frage,  gerade  wie  in  der  neueren  Philosophie,  ins  Meta- 
physische über.  Von  der  Lebhaftigkeit  des  wissenschaftlichen 
Interesses  an  diesen  Erkenntnisfragen  geben  u.  a.  die  von 
Bischof  Templer  1277  verurteilten  219  Thesen  ein  anschau- 
liches Bild  2).  Auch  die  vielfache  Beschäftigung  des  hl.  Thomas 
mit  Fragen  der  Erkenntnislehre  in  den  beiden  Summen  und 
den  Quaestiones  disputatae  de  veritate  zeigt  die  damalige 
Aktualität  derselben^). 

Ihre  eigentümlichste  Zuspitzung  und  feinste  Prägung 
fand  diese  wissenschaftliche  Kontroverse  in  der  Stellung- 
nahme zu  dem  theologischen  Apriorismus  Augustins:  bedarf 
der  menschliche  Geist  zum  Erfassen  der  höheren  Wahrheiten 
der  Einstrahlung  eines  besonderen  göttlichen  Lichtes,  oder 
erkennt    er    sie,    wie    die    Aristoteliker   wollen,    in    Anleh- 


1)  TJeberweg-Baumgartner,  §§45,  46;  Baeumker,  Die  christliche 
Philosophie  des  Mittelalters,  n.  VII;  Dreiling,  Der  Konzeptualismus 
des  Aurooli;     Lappe,  Nicolaus  v.  Autrecourt. 

2)  In  Denifle-Chatelain,  Chart.  Univ.  Paris,  I  p.  543  sq.  u.  Man- 
donnet,  Siger  de  Brabant,  2.  partie  p.  175  sqq. 

3)  Wenn  von  den  in  der  Sammlung  Baeumker  (Beiträge  z.  Gesch. 
d.  Phil,  des  Mittelalters)  erschienenen  Monographien  auffallend  viele 
Probleme  der  Erkenntnis  behandeln,  so  zeigt  auch  diese  gewiß  nicht 
zufällige  Erscheinung,  wie  stark  das  Interesse  der  Hochscholastik  ftlr 
diese  philosophische  Disziplin  war. 


4  1.  Kapitel 

nung  an  die  sinnliche  Erfahrung  durch  eigene  Kraft?  John 
Pecham  berichtet  uns  mit  temperamentvollen  Worten  von  der 
Heftigkeit,  mit  der  der  Kampf  um  diesen  umstrittenen  Lehr- 
punkt geftlhrt  wurde  ^).  In  der  Tat  durchzieht  die  Frage 
nach  dem  Ursprung  der  übersinnlichen  Erkenntnisse  wie  kaum 
irgend  eine  andere  die  gesamte  Geschichte  der  Philosophie : 
von  Piaton  und  Aristoteles  angefangen,  kehrt  sie  in  den 
verschiedensten,  vielfach  zeitgeschichtlich  bedingten  Formen 
auch  in  der  Neuzeit  unter  der  Benennung  Rationalismus, 
Empirismus,  Kritizismus  wieder. 

Im  dreizehnten  Jahrhundert  nimmt  die  geschichtliche 
Entwicklung  ungefähr  folgenden  Verlauf:  die  Vertreter  des 
sog.  Augustinismus  aus  dem  Weltklerus,  der  älteren  Franzis- 
kaner- und  Dominikanerschule  halten  an  der  tiberlieferten 
Auffassung  fest,  wie  sie  sich  im  zwölften  Jahrhundert  etwa 
bei  Anselm  findet  2).  In  diese  ursprtlngliche  Augustinische 
Passung  dringen  mehr  und  mehr  spezifisch  Aristote- 
lische Elemente  ein.  Ohne  daß  man  sich  des  ganzen, 
unvereinbaren  Gegensatzes  bewußt  wird,  setzt  man  beide 
Gedankenreihen  friedlich  neben  einander.  Vertreter  dieser 
Vermittlungsversuche  ist  z.  B.  Bonaventura-^).  Eine  eigen- 
tümliche Erscheinung  dabei  ist,  daß  man  die  Augustinische 
höhere  Einstrahlung  oder  Gott  als  Intellectus  agens  bezeichnete, 
so  vor  allem  in  der  älteren  Franziskanerschule*),  die  indes 


1)  C.  T.  Martin,  Registram  epistolarum  Fr.  J.  Peckham,  3  voll., 
London  1882—85,  besonders  im  3.  Bd.  S.  840  ff. ;  Ehrle,  Zeitschr.  f.  kath. 
Theologie,  Bd.  13  S.  172ff. ;  v.  Hertling,  Augustinus-Zitate,  S.  556ff., 
583  ff.,  586  ff. ;  derselbe,  Wissenschaft!.  Richtungen  u.  philos.  Pro- 
bleme im  13.  Jahrb.,  München  1910,  abgedruckt  in  v.  Hertling,  Histo- 
rische Beiträge  zur  Philosophie,  Kempten  und  München  1914  ;  De 
humanae  cognitionis  ratione  anecdota  qiiaedam  ;  de  Wulf,  Etudes  sur 
Henri  de  öand,  p.  119sqq. ;  Grabmann,  Die  Erkenntnislehre  des 
Kardinals  Matth.  v.  Aquasparta.  S,  55 — 73:  Baumgartner,  Die  Er- 
kenntnislehre des  Wilhelm  v.  Auvergne,  S    40ff. 

2)  Fischer,  Die  Erkenntnislehre  Anselms  v.  Canterbury. 

3)  Lutz,  Die  Psychologie  Bonaventuras ;  Ueberweg-Baumgartner, 
S.  443 ff.;  in  etwa  ist  auch  Wilhelm  von  Auvergne  ein  solcher  Ver- 
treter, vgl.  tiber  ihn  Baumgartner,  Die  Erkenntnislehre  des  W.  v.  A. 

4)  Bekanntlich  hat  sich  Renan    dadurch  irrtümlicher  Weise  ver- 


Die  scholastische  Erkenntnislehre  des  dreizehnten  Jahrhunderts     5 

mehr  und  mehr,  wie  vor  allem  die  jüngsten  Forschungen 
gezeigt  haben,  zum  fortschrittlichen  Scotus  hindrängte.  ^) 

Zum  vollen  Sieg  führte  die  von  der  Erfahrung  aus- 
gehende Aristotelische  Erkenntnislehre  durch  die  Vermittlung 
Alberts  d.  Gr,  ^)  bei  Thomas  v.  Aquin.  Nirgends  vielleicht 
auf  philosophischem  Gebiet  offenbart  sich  sein  Talent  zu 
systematisieren  so  glänzend  und  seine  Bevorzugung  des 
Stagiriten  vor  Augustinus  so  ausdrucksvoll  als  in  seiner 
Erkenntnislehre.  Mit  der  Aristotelischen  Auffassung,  wonach 
das  geistige  Erkennen  durch  Abstraktion  aus  der  Erfahrung 
gewonnen  wird,  verbindet  er  das  Grundmotiv  der  Platonisch- 
augustinischen  Ideenlehre  ^),  die  letztlich  zu  den  Gott  imma- 
nenten vorbildlichen  Gedanken  hinführt  und  aus  ihnen  die 
geschöpf liehe  Wahrheit  und  Wirklichkeit  ableitet.  Diese 
geniale  Synthese  des  Aquinaten  siegte  in  der  Folgezeit  über 
den  traditionellen  Augustinismus,  der  nur  mehr  von  ver- 
einzelten Denkern,  wie  Heinrich  v.  Gent,  gehalten  wurde. 

Neben  diesen  beiden  Grundrichtungen  des  Augustinis- 
mus und  Aristotelismus  in  der  Erkenntnislehre  geht  eine 
starke  ünterströmung  einher:  es  ist  eine  eigenartige  Ver- 
bindung von  Neuplatonismus  und  Empirismus.*)    Beim  ersten 


leiten  lassen,  von  einem  Averroismus  bei  den  Franziskanern  zu  sprechen ; 
vgl.  O.  Reicher,  Zur  Lehre  der  ältesten  Franziskanertheologen  vom 
„intellectus  agens",  in  v.  Hertling-Festschrift,  S.  173  ff. ;  derselbe,  Der 
Intellectus  agens  bei  Roger  Baco,  in  Baeumker-Festschrift,  S.  297  ff. ; 
über  Roger  Bacon  vgl.  Ueberweg-Baumgartner,  S.  567  f. 

1)  Vgl.  die  ausführliche  I^ote  im  3.  Kap.  S.  27. 

2)  Daß  Albert  wie  in  dem  Granzen  seiner  Philosophie  so  auch  in 
der  Erkenntnislehre  keinen  reinen  Aristotelismus  vertritt,  sondern 
auch  —  und  zwar  unausgeglichen  zu  ihm  —  Platonische  bzw.  Neu- 
platonische Elemente  herüber  genommen  hat,  haben  besonders  die  neueren 
Forschungen  gezeigt :  Schneider,  Die  Psychologie  Albert  des  Gr. ; 
Gaul,  Alberts  d.  Gr.  Verhältnis  zu  Plato. 

3)  S.  th.,  I  q.  84 — 88 ;  Baumgartner,  Zum  thomistischen  Wahrheits- 
begriff, in  Baeumker-Festschrift;  derselbe.  Zur  thomistischen  Lehre  von 
den  ersten  Prinzipien  der  Erkenntnis,  in  v.  Hertling-Festschrift;  Man- 
donnet,  in  Dictionnaire  de  theol.  cathol.  unter  Fröres-Precheurs ;  Grab- 
mann, Thomas  v.  Aquin,  Kempten  und  München  4.  Aufl.  1920;  Jansen, 
Die  wissenschaftl.  Eigenart  des  Aquinaten,  in  Stimmen  der  Zeit,  Bd.  98. 
(1920)  S.  453  f. 

4)  Ueberweg-Baumgartner,  §  43. 


6  1.  Kapitel 

Anblick  möchte  die  Verbindung  von  Emanation  und  höherer 
Einstrahlung  mit  mathematisch  exaktem  Denken  und  ausge- 
prägtem Sinn  für  die  Erfahrung  überraschen.  Und  doch 
findet  sich  ein  verwandter  Zug  bereits  bei  Piaton  ^)  und 
später  in  der  platonisierenden  Schule  von  Chartres  im 
zwölften  Jahrhundert^),  desgleichen  bei  den  Arabern. 

Als  Eigentümlichkeit  dieser  neuen  Platonischen  Rich- 
tung ist  zunächst  die  sog.  Lichtmetaphysik  ^)  anzusehen. 
Das  Licht,  das  sich  durch  das  ganze  Universum,  womöglich 
nach  mathematisch  bestimmbaren  Gesetzen,  ergießt,  ist  das 
erste,  vornehmste,  alles  Leben  bedingende  Erzeugnis  der 
göttlichen  Tätigkeit.  Von  der  größten  Bedeutung  ist  es  für 
das  Zustandekommen  der  Erkenntnis.  Weiterhin  wird  die 
stufenförmige  Emanation  der  Einzelordnungen  des  Endlichen 
aus  dem  Unendlichen  vertreten,  wie  sie  den  Arabern  eigen 
war.  Die  höheren  Stufen  derintelligenzen  erleuchten  die  nie- 
deren, wie  esu.  a.Pseudo-Dionjsius*)  und  der  Liber  de  causis^) 
lehren.  Der  empirische  Zug  kommt  vor  allem  in  der  Optik 
zum  Ausdruck.  Aus  Alhazens  Thesaurus  Opticae  ^),  dessen  Aus- 
führungen in  vieler  Beziehung  die  Ergebnisse  der  modernen 


1)  Politeia,  522  sqq. 

2)  Ueberweg-Baumgartner,  §  30;  Baeuraker,  Der  Platoniamus  im 
Mittelalter,  S.  11  ff. 

3)  Sie  findet  sich  u.  a.  bei  Grosseteste  (vgl.  Baur.  Die  Philo- 
sophie des  Robert  Grrosseteste ;  derselbe,  Das  Licht  in  der  I^atur- 
Philosophie  des  Robert  Grrosseteste,  in  v.  Hertling-Festschrift,  S.  41 — 57), 
Bonaventura,  Albert  d.  Gr.  u.  Witelo  (Baeumker,  Witelo,  S.  394 ff.), 
auch  bei  Roger  Bacon;  Baeuraker  hat  das  Verdienst  (besonders  in 
Witelo.  S.  357  ff.),  dem  geschichtlichen  Ursprung  und  Verlauf  dieser 
Lichtmetaphysik  in  eindringenden  Untersuchungen  nachgegangen  zu 
sein,  siehe  auch  Baeumker,  Der  Piatonismus  im  Mittelalter ;  Baur  (a.a.O.) 
brachte  vielfache  Ergänzungen  ;  Grabmann,  Der  Neuplatonismus  in 
der  deutschen  Hochscholastik  (Phil.  Jahrbuch,  Bd.  XXIII  (1910)  S. 
38—54);  Gaul,  Alberts  des  Großen  Verhältnis  zu  Plato;  Schneider, 
Die  Psychologie  Alberts  d.  Gr. 

4)  De  coelesti  hierarchia,  cap.  II  §2,3;  cap.  VII  §  3,4;  cap.  VIII 
§  1  2;  cap.  X  §  1,  2. 

5)  §  1,  3,  4,  S.  163  ff. 

6)  Herausgeg.  von  Fr.  Risner,  Basileae  1572,  zusammen  mit  Wi- 
telo :  Item  Vitellionis  Turingopoloni  libri  X. 


Die  scholastische  Erkenntnislehre  des  dreizehnten  Jahrhunderts     7 

experimentellen  Psychologie  des  Sehens  vorweggenommen 
haben*),  haben  vor  allem  örosseteste 2),  Pecham^),  Witelo*), 
Roger  Bacon^)  und  Dietrich  von  Freiberg  6)  geschöpft. 

Neben  der  prinzipiell  so  bedeutsamen  Untersuchung 
über  den  Ursprung  der  höheren  Erkenntnis  waren  es  noch 
manch  andere  Einzelfragen  der  Erkenntnislehre,  die  im 
Anschluß  daran  gestellt  wurden  und,  ebenso  wie  jene,  zu 
lebhaften  Auseinandersetzungen  führten.  Vor  allem  gilt  dies 
von  der  Erkenntnis  der  Einzelobjekte  oder  des  Individuellen. 
Thomas  v.  Aquin  und  seine  Schule  lehrten  folgerichtig  zu 
den  metaphysischen,  logischen  und  psychologischen  An- 
schauungen des  Aristoteles '),  daß  der  abstrahierende  Ver- 
stand zuerst  einen  Allgemeinbegriff,  das  Verbum  mentis, 
bilde  und  erst  nachträglich  durch  Hinwendung  zum  Sin- 
nenbild und  in  ihm  das  konkrete  sinnfällige  Einzelobjekt 
erkenne^).  Diese  Theorie  widersprach  der  Erkenntnislehre 
des  bislang  herrschenden  Augustinismus  und  wurde  darum 
von  den  zeitgenössischen  Vertretern  desselben,  so  nament- 
lich von  den  Franziskanern,  wie  Wilhelm  de  la  Mare^)  und 


1 )  Vgl.  Bauer,  Die  Psychologie  Alhazens ;  Fröbes,  Aus  der  Vor- 
geschichte. 

2)  De  lineis,  angulis  et  figuris,  De  natura  locorum.  De  iride,  De 
colore  (ed.  Baur,  Die  Philosophischen  Werke  des  Grosseteste);  vgl 
Baur,  Die  Philosophie  des  Grosseteste. 

3)  Perspectiva  communis^  Mediolani  —  ohne  Zeitangabe  — ,  Vene- 
tiis  1504,  1593;  über  seine  Psychologie  vgl.  Spettmann. 

4)  Baeumker,  Witelo;  Fröbes,  Aus  der  \rorgeschichte. 

5)  De  multiplicatione  specierum  u.  Perspectiva  (5.  Teil  des  Opus 
malus). 

6)  De  iride  et  radialibus  impressionibus.  De  luce  et  eius  origine; 
vgl.  Krebs,  Meister  Dietrich ;  Würschmidt,  Dietrich  von  Freiberg 
Über  den  Regenbogen. 

7)  Vgl.  Metaph.,  VII.  Buch;  De  anima,  III.  Buch  4 ff.  Kap.; 
Geyser,  Die  Erkenntnistheorie  des  Aristoteles,  z.  B.  S.  74  ff.,  200., 
235  ff.,  278  ff. 

8)  S.  th.,  I  q.84  a.  6,  7;  q.  85  a.  1— 3;  q.  86  a.  1 ;  De  verit.,  q.  X 
a.  4 — 6;  speziell  über  das  Verbum  mentis  vgl.  S.  contra  Gent.,  I  53; 
II  74 ;  De  potentia,  q.  9  a.  5 ;  vgl.  die  beiden  Artikel  von  Baamgartner ; 
M.  Gloßner,  Das  Prinzip  der  Individuation  nach  der  Lehredes  hl.  Thomas, 
Paderborn  1887. 

9)  Correctorium,  art.  2  f .  4 ;  art.  10  f.  48. 


8  1.  Kapitel 

Aquasparta  *),  entweder  bestritten  oder  doch  fallen  gelassen. 
Auch  Scotus  stimmt  in  diesem  Punkt  mit  der  älteren  Pran- 
ziskanerschule  tiberein  *). 

Weiterhin  stand  die  Untersuchung,  ob  die  menschliche 
Seele  ihr  Wesen  und  ihre  Substanz  unmittelbar  erkenne, 
also  gewissermaßen  schaue,  oder  sie  nur  indirekt  durch  Ver- 
mittlung ihrer  Akte  erfasse,  im  Vordergrund  der  Geistes- 
kämpfe. An  der  Lehre  des  hl.  Augustin,  der  an  vielen 
Stellen  ein  intuitives  Erfassen  der  Seelensubstanz  gelehrt 
hatte ^),  hielten  seine  Anhänger  getreu  fest*)  während  die 
von  der  Erfahrung  ausgehenden  Aristoteliker,  namentlich  der 
hl.  Tomas  ^),  behaupteten,  daß  der  menschliche  Verstand  erst 
aus  der  Natur  der  Akte  durch  schlußfolgerndes  Denken  zur 
Erkenntnis  der  Einfachheit.  Geistigkeit,  Unsterblichkeit  und 
der  anderen  Eigenschaften  der  Seelensubstanz  fortschreiten 
könne. 


1)  Quaest.  disp.,  q.  4;  Grabmann,  S.  85 ff. 

2)  De  rerum  principio,  q.  13  a.  3  n.  28—33.  Daß  die  Nominalisten, 
nach  denen  es  nur  Einzelnes  gibt,  die  unmittelbare  Erkenntnis  des 
Individuellen  hervorheben,  ist  klar;  Durandus,  Sent.,  II  d.  3  q.  7, 
12;  Sent.,  I  d.  3  q.  5,28;  Occam,  Sent.,  I  d.  3  q.  2  F.;  Sent.,  Prol.  q. 
1  H.  Z. ;  Quodlib.,  I  q.  14:  Aureolus,  Sent.,  dist.  XXXY  pars  4  art.  1; 
Gregor  v.  Rimini,  Sent.,  I  d.  3  q.  3  a.  2:  vgl.  über  ihn  Würsdörfer, 
Erkennen  und  Wissen  nach  Gregor  v.  Rimini. 

3)  De  Trin.,  VIII  4;  IX  3,  6,  11,  12;  XIY  6,  15;  cfr.  librum  XI, 
XV ;  De  lib.  arb.,  II  10. 

4)  Anseimus,  Monologium,  cap.  33:  die  Stelle  wird  von  Olivi 
zitiert ;  über  Anselm  siehe  Fischer,  Die  Erkenntnislehre  Anselms, 
S.  30  f.  Wilhelm  v.  Auvergne  bei  Werner,  Die  Psychologie  des 
W.  V.  A.,  S.  265.  Heinrich  v.  Gent,  Quodl.,  IV  7;  V  15,  26;  VIII  13; 
über  ihn  de  Wulf,  ^fitudes  sur  Henri  de  Gand,  p.  1 17  sq.  Matth.  v.  Aqua- 
sparta, Quaest.  disp.,  q.  5;  über  ihn  Grabmann,  S.  92  ff.  Richard  de 
Mediavilla,  Sent.,  II.  dist.  24  art.  3  quaest.  4;  Quodlib.,  II  q.  19;  über 
ihn  Minges,  Skotistisches,  S.  269  f.  Roger  Marston,  II  Quaest.  2,  bei 
Daniels,  AnselmzLtate  bei  Roger  von  Marston,  S.  47.  Correct.,  art. 
37  f.  23.    Scotus,  De  rerum  principio,  q.  15,  n.  26. 

5)  S.  th.,  q.  87  a.  1,  2:  De  veritate,  q.  10  a.  8,  9;  vgl.  Kleutgen, 
Die  Philosophie  der  Vorzeit,  1  Bd.  S.  168ff. ;  Scotus,  der  weder  ein 
so  reiner  Aristoteliker  wie  Thomas  noch  ein  so  entschiedener  Anhänger 
Augustins  wie  die  älteren  Franziskaner  ist,  läßt  die  Frage  ziemlich 
offen  bezw.  schwankt:  De  rerum  principio,  q.  15;  Sent.,  I  dist.  3  q.  8; 
Quodlib.,  14. 


Die  scholastische  Erkenntnislehre  des  dreizehnten  Jahrhunderts      9 

Weitere  psychologische  Fragestellungen,  wie  die  über 
die  Sinnesakte,  ob  sie  einfach  oder  ausgedehnt  sind,  ob 
das  Gehirn  oder  das  Herz  das  Zentralorgan  der  Empfindung 
ist,  in  welchem  Verhältnis  die  inneren  Sinne  zu  den  äußeren 
stehen,  welches  ihre  Zahl  und  reelle  Verschiedenheit  ist, 
mögen  hier  noch  erwähnt  werden,  um  damit  das  Bild  von 
dem  Entwicklungsverlauf  der  Erkenntnislehre  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  abzuschließen.  Die  nun  folgenden  Darlegungen 
werden  zeigen,  an  welcher  Stelle  Olivis  Ausführungen  ihren 
Platz  zu  finden  haben. 


2.  Kapitel. 

Die  philosophische  Eigenart  Olivis. 

Petrus  Johannis  Olivi,  1248  oder  1249  in  Südfrankreich 
geboren  und  1298  daselbst  gestorben,  war  schon  früher  als 
der  entschiedene  Vorkämpfer  der  Armutsidee  des  hl.  Franz  v. 
Assissi  vom  Usus  pauper  und  als  der  temperamentvolle  Führer 
der  Spiritualen  des  Franziskanerordens  bekannt.  Auch  von 
der  Verurteilung  seiner  eigenartigen  Seeionlehre  durch  das 
Vienner  Konzil  (1312)  wußte  die  Kirchengeschichte  zu  be- 
richten ^).  Daß  er  aber  auch  ein  bedeutender  spekulativer 
Kopf  gewesen  sei,  war  völlig  in  Vergessenheit  geraten^  wenn- 
gleich Wadding-Sbaralea^)  eine  lange  Liste  philosophischer 
und  theologischer  Schriften  aufzuzählen  wußten.  Allzu  leicht 
ist  diese  Vergessenh<*it  begreiflich,  nachdem  der  Orden 
den  lästigen,  stürmischen  Reformer  jahrelang  beargwöhnt 
und  schließlich  zur  kirchlichen  Verurteilung  geführt  hatte, 
nachdem  seine  Anhänger  jahrzehntelang  in  härtester  Weise 
behandelt  und  seine  eigenen  Schriften  eingezogen,  ver- 
boten oder  gar  verbrannt  waren. 

Erst  der  um  die  Erforschung  der  Frühgeschichte  des 
Franziskanerordens  hochverdiente  P.  Ehrle  hat  Olivi  und 
seine  Wissenschaft  der  ungerechten  Vergessenheit  entrissen  ^j. 
Er  fand  außer  sieben  Handschriften  —  zwei  von  ihnen  hatte 


1)  Denzin^er- Bann  wart,  Bnchiridion  symbolorum,  13.  ed.  Friburgi 
Br.  192J,  n.  480  sq.;  J.  Hergenröther  —  J.  P.  Kirsch,  Handbuch  der  all- 
gemeinei)  Kirchengeschichte,  5  Aufl.,  Preiburg  Br.  1913,  2.  Bd.  S. 704; 
1915,  3.  Bd.  S,  321. 

2)  Waddinc:-Sbaralea,  Scriptores  Ordinis  Minorum,  Bomae  1806. 

3)  Archiv,  TU  S.  409—553. 


Die  philosophische  Eigenart  Olivis  11 

bereits  Fidelis  von  Fanna  entdeckt  i)  — ,  die  philosophische 
Abhandlungen  Olivis  enthielten,  vor  allem  im  Codex  Vati- 
canus  Latinus  1116  die  endgültige  Redaktion  der  philo- 
sophischen Lebensarbeit  Olivis.  Schreiber  dieses  hat  nach- 
zuweisen versucht^),  daß  er  hier  seine  verschiedenen  frü- 
heren Artikel  nach  Art  eines  Sentenzenkommentars  in  freier 
Bearbeitung  letztlich  zusammengestellt  hat.  Von  den  118 
Quästionen  behandeln  die  ersten  31  allgemein  metaphysische 
Fragen  über  Schöpfung,  Unendliches,  Essenz  und  Existenz, 
Individuation,  Universalien,  Personbegriff,  Materie  und  Form, 
Aktivität,  Bewegung,  Keimkräfte.  Es  folgt  in  den  Quästionen 
32 — 48  die  Engellehre.  Die  Fragen  49 — 89  sind  psycho- 
logischen Untersuchungen  gewidmet;  hier  finden  sich  die 
Olivi  eigentümlichen  Auffassungen  über  das  Verhältnis  von 
Leib  und  Seele  und  die  Mehrheit  der  Formen;  ferner  wird 
hier  das  Wollen  und  Erkennen  erörtert.  Den  Schluß  von 
90 — 118  füllen  ethische  Abhandlungen  aus. 

In  einer  zehnjährigen  Beschäftigung  mit  dem  Lehrinhalt 
des  Vat.  Lat.  1116  verdichteten  sich  mir  die  Einzelbeobach- 
tungen und  Einzeleindrücke  zu  folgendem  abschließenden 
Bild  der  philosophischen  Eigenart  Olivis.  Als  seine  Lehrer 
erwähnt  er  ein  oder  das  andere  mal  Männer,  die  der 
Augustinischen  Richtung  angehörten^);  offenbar  sind  damit 
Vertreter  der  älteren  Franziskaner  schule  gemeint,  so  nennt 
er  ausdrücklich  Alexander  und  Bonaventura.  Sein  eigent- 
licher Führer  in  der  Spekulation  ist  darum  auch  Augustinus, 
mit  dessen  Schriften  und  Lehrmeinungen  er  wohl  vertraut 
ist,  den  er  immer  und  immer  wieder  zitiert,  dessen  Autorität 
ihm  höher  als  die  aller  andern  steht,  von  dem  er  freilich  auch 
in  mehreren  wichtigen  Stücken  abweicht  und  dessen  Erklä- 
rung der  sinnlichen  Erkenntnis  er  sogar  scharf  bekämpft. 

Auch  in  den  Schriften  und  den  Ansichten  des  Aristo- 
teles kennt  er  sich  im  allgemeinen  gut  aus,    wenngleich   er 


1)  Zigliara,  De  mente  Concilii  Viennensis,  p.  107  sqq. 

2)  Die  handschriftliche  Überlieferung  der  spekulativen  Schriften 
Olivis. 

3)  Vgl.  Ehrle,    Das  Studium    der  Handschriften    der  mittelalterl. 
Scholastik,  S.  40. 


12  2.  Kapitel 

dessen  ursprüngliche  Lehre  häufig  in  der  spezifisch  neu- 
platonischen Färbung  der  Emanationstheorie  wiedergibt.  Über- 
dies trübt  eine  gewisse  einseitige  Voreingenommenheit,  ver- 
bunden mit  einem  heftigen,  fast  leidenschaftlichen  Angehen 
gegen  die  neue,  fortschrittliche  Richtung  vielfach  seinen 
Blick  für  den  vollen  Aristotelischen  Gedanken.  Häufig  genug 
stößt  man  dabei  auf  eine  unerquickliche  Konsequenzmacherei 
zu  Ungunsten  des  Stagiriten.  Beispielsweise  stellt  er  in  den 
Borghese-Kodizes  die  Aristotelische  Abstraktionstheorie  ge- 
treu dar,  während  deren  Wiedergabe  in  Frage  74  des  Yati- 
canus  ungeschichtlich  ist. 

Eine  scharfe  Kampfesstellung  im  Sinn  des  Korrektoriums 
des  W.  de  la  Mare  nimmt  Olivi  gegen  Thomas  v.  Aquin 
ein,  mit  dessen  Ansichten  er  wohl  vertraut  ist;  so  in  der 
Lehre  von  der  Möglichkeit  einer  ewigen  Schöpfung,  in  ver- 
schiedenen Punkten  der  Engellehre,  in  der  Begründung  der 
Verstocktheit  der  Verdammten,  in  der  Erklärung  der  mensch- 
lichen Freiheit,  in  der  Erkenntnistheorie.  Häufig  spielt  er 
auf  verschiedene  Zeitgenossen  und  zeitgenössische  Richtungen 
an,  ohne  daß  man  stets  die  bestimmten  Namen  ermitteln 
könnte.  Überhaupt  verrät  Olivi  ein  für  seine  Zeit  um- 
fassendes literargeschichtliches  Wissen:  so  zitiert  er  häufig 
Anselm.  Hugo  v.  St.  Viktor  und  andere  Frühscholastiker, 
die  Araber  und  ihre  neuplatonischen  Theorien,  vor  allem 
Averroes,  Avicenna  und  die  Perspectiva  Alhazens.  Diese 
philosophische  Belesenheit  kommt  vor  allem  in  den  breit 
angelegten  geschichtlichen  Überblicken  zum  Ausdruck,  die 
häufig  einen   eigenen  Teil  der  Quästio  bilden. 

In  methodischer  Hinsicht  ist  Olivi  ein  scharfer  Dialek- 
tiker und  geschulter  Logiker.  Das  zeigt  sich  sofort  in  der 
ganzen  Anlage  und  Dui'chführung  der  einzelnen  Fragen.  So 
ausführlich  er  auch  ist,  nie  verliert  er  den  Fragepunkt  aus 
dem  Auge.  Durch  übersichtliche  Einteilungen  wird  der  Über- 
blick erleichtert.  Vor  allem  offenbart  sich  seine  begriffliche 
Schärfe  in  den  eindringenden  Lösungen  der  Schwierigkeiten. 
Die  Tatsache  allein,  daß  er  wiederholt  hervorhebt,  gegen 
welche  Regel  der  formalen  Logik  die  Beweisführung  des 
Gegners  verstoße,    weist  auf  eine  sorgfältige  philosophische 


Die  philosophische  Eigenart  Olivis  13 

Schulung  hin.  Freilich  ist  seine  Polemik  häufig  scharf  und 
heftig  und  in  den  Ausdrücken  geradezu  maßlos,  besonders 
wenn  er  auf  die  Aristoteliker  und  ihr  Pochen  auf  die 
Autorität  ihres  Meisters  zn  sprechen  kommt. 

Olivis  stärkste  Seite  ist  seine  spekulative  Kraft,  seine 
philosophische  Tiefe.  So  verzerrt  auch  seine  Informations- 
lehre ist,  rein  formell  betrachtet  ist  sie  das  Erzeugnis  einer 
ungewöhnlich  starken  Denkfähigkeit.  Die  Ausführungen  über 
das  Unendliche  und  Kontinuum,  über  die  Ewigkeit  der 
Schöpfung,  über  die  Keimkräfte,  über  die  Willensfreiheit^) 
gemahnen  an  die  erstklassigen  Spekulationen  der  vornehmsten 
Metaphysiker.  Freilich  ist  er  der  Gefahr,  die  stets  mit  einer 
ausgesprochenen  Selbständigkeit  und  einem  hervorragenden 
apriorischen  Zug  gegeben  ist  —  man  denke  nur  an  Piaton,  Plo- 
tin,  Scotus  Eriugena,  Spinoza,  Kant  — ,  häufig  unterlegen; 
seine  Aufstellungen  sind  oft  weltfremd  und  unhaltbar,  so 
beispielsweise,  um  ganz  von  seiner  Informationslehre  abzu- 
sehen, die  Leugnung  des  Einflusses  des  Objektes  auf  das 
Zustandekommen  des  Erkennens  und  Wollens. 

Mit    dieser    ausgesprochenen    spekulativen    oder    aprio 
rischen  Betrachtungsweise    verbindet   sich    ein    für    die    da 
malige  Zeit  verhältnismäßig  starker  empirischer  Zug^).    Da 
durch  erweist  sich  Olivi   als  getreues  Mitglied  der  Franzis 
kanerschule,  die  mehr  als  andere  die  Beobachtung  pflegte; 
es  sei  nur  an  Bartholomäus  Anglicus,  Roger  Bacon  ^)  und  John 
Pecham*)    erinnert.     Die   Schätzung    des   positiven  Wissens 
kommt  in  der  bereits  erwähnten    philosophiegeschichtlichen 
Erudition  zum  Ausdruck.     Vor   allem   verrät   sich   das  Ver- 
ständnis  für   die  Erfahrung   als   die  Grundlage   der  Speku- 
lation in  seiner  modern  anmutenden  introspektiven  Psycho- 
logie,   welche   ihm  die  Daten  in  die  Hand  gibt,   aus  denen 


1)  Vgl.  Jansen,  Ein  neuzeitlicher  Anwalt  der  menschl.  Freiheit. 

2)  Über  die  Stellung  der  mittelalt.  Philosophie  zum  Positiven 
und  zur  Empirie  vgl.  Baeumker,  Die  christl.  Philosophie  des  Mittel- 
alters, S.  358  ff. ;  Ueberweg-Baumgartner,  §§  20,  21. 

3)  Die  reiche  Literatur  über  ihn  siehe  bei  Ueberweg-Baumgartner 
zu  §  43  Y. 

4)  Über  ihn  Spettmann,  Die  Psychologie  des  Joh.  Pecham. 


14  2.  Kapitel 

er  die  Willensfreiheit  ableitet^);  vielleicht  bei  keinem  mittel- 
alterlichen Denker  findet  sich  ein  solch  reiches  diesbezüg- 
liches Beobachtungsmaterial.  Ebenso  bedeutsam  ist.  daß 
Olivi  im  Gegensatz  zu  Mbert  d.  Gr.,  Thomas,  Roger  Bacon 
und  fast  der  gesamten  Scholastik  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts ein  so  unbefangenes  Verständnis  für  den  neu- 
zeitlichen Bewegungsbegriff  verrät^  wie  er  sich  bereits  bei 
Philoponus  (um  550  n.  Chr.)  findet  und  wie  er  dem  christ- 
liehen Abendland  in  einer  von  Michael  Scottus  1217  ange- 
fertigten Übersetzung  der  Planetentheorie  des  Astronomen 
Abü-Ishäk  al  Bitrüschi  übermittelt  wurde  2).  Olivi  ist  somit 
bis  jetzt  der  erste  scholastische  Denker,  der  die  Bewegung 
im  Gegensatz  zu  den  hergebrachten  Aristotelischen  Anschau- 
ungen im  Sinn  des  heutigen  Trägheits-  und  Kraftbegriffs 
erklärte.  Die  folgenden  Ausführungen  werden  zeigen,  daß 
seine  Erkenntnislehre  von  derselben  verständnisvollen  Kennt- 
nis der  Einzeltatsachen  getragen  ist;  reichliches  Beobach- 
tungsmaterial hat  er  besonders  der  mathematischen  Optik 
Alhazens  entnommen. 

In  diesem  Zusammenhang  sei  bemerkt,  daß  sich  bei 
Olivi  kaum  neuplatonische  Elemente  finden,  wie  dies  bei 
vielen  Denkern  des  dreizehnten  Jahrhunderts  ^)  und  nament- 
lich bei  den  empirisch  gerichteten,  z.B.  bei  Albert  d.  Gr.,  Petrus 
Peregrinus  de  Maricourt,  Roger  Bacon,  Witelo,  Wilhelm  von 
Moerbeke  und  Dietrich  von  Freiberg  der  Fall  ist^).  Abge- 
sehen davon,  daß  Olivi  häufig  und  scharf  die  „Sarazenen"  be- 
kämpft, wenngleich  er  sich  anderswo  auf  Avicenna  und 
Averroes  beruft,  erhellt  seine  Stellung  zum  Neuplatonismus 


1)  Jansen,  Ein  neuzeitlicher  Anwalt  der  menBchlichen  Freiheit. 

2)  Jansen,  Olivi  der  älteste  scholastische  Vertreter  des  heutigen 
Bewegungsbegriffs.  Über  die  Stellungnahme  der  Scholastiker  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  zur  Bewegungslehre  vgl.  das  bahnbrechende 
Werk  von  Pierre  Duhom,  ^tudes  sur  Leonard  de  Vinci,  3  voll.  Paris 
1906-1913. 

3)  Vgl.  Baeumker,  Witelo ;  derselbe,  Der  Piatonismus  im  Mittel- 
alter ;  derselbe,  Die  Stellung  des  Alfred  v.  Sareshel,  S.  49ff. ;  Schneider, 
Die  Psychologie  Alberts  d.  Gr.,  2.  Teil. 

4)  Ueberweg-ßaumgartner,  S.  551  ff. 


Die  philosophiBche  Eigenart  Olivis  15 

nicht  bloß  aus  dem  Fehlen  diesbezüglicher  Gedanken- 
motive —  von  Emanation  und  Lichtmetaphysik  findet  sich 
keine  Spur  ^)  — ,  sondern  besonders  auch  positiv  aus  seiner 
Engellehre.  Gerade  in  den  Ausführungen  über  dieses  Lehr- 
stück der  Offenbarung,  wo  die  Scholastiker  willkommene 
Gelegenheit  hatten,  sich  nach  dem  Vorbild  der  Neuplato- 
niker^)  in  langen  Spekulationen  über  die  Natur,  Erkenntnis- 
weise und  Beziehungen  der  „Intelligenzen"  zu  ergehen, 
verrät  er  eine  ausgesprochene  Gegnerschaft  gegen  den  Neu- 
platonismus.  Im  Anfang  der  Frage  33 :  an  in  quolibet  angelo 
Sit  tota  sua  species  secundum  totum  ambitum  suum  bringt 
er  einen  Zentralgedanken  der  Intelligenzlehre.  Dionysius 
sage  im  9.  Kapitel  De  hierarchia  angelica  —  Olivi  schätzt 
natürlich  seine  Autorität  hoch,  zitiert  ihn  oft,  hat  aber  keine 
Ahnung  von  seiner  wahren  Herkunft  — ,  quod  superiores 
ordines  abundanter  habent  minorum  sacras  proprietates, 
inferiores  vero  maiorum  superpositas  universitates  non  habent, 
particulariter  in  eis  primo  apparentibus  illuminationibus  per 
primas  eis  proportionaliter  distributis,  worauf  andere  Stellen 
folgen  mit  der  Schlußbemerkung:  in  omnibus  his  videtur 
Dionysius  expresse  dicere,  quod  scientia  et  cetera  dona,  quae 
sunt  in  inferioribus  angelis,  habeant  quandam  universali- 
tatem  respectu  scientiae  et  aliorum  donorum,  quae  sunt  in 
inferioribus.  Diese  Objektion  wird  ausführlich  Aviderlegt,  die 
Engel  ein  und  derselben  Ordnung  sind  nicht  spezifisch,  son- 
dern bloß  numerisch  verschieden,  licet  quidam  sequentes 
paganos  philosophos  et  saracenos  das  Gegenteil  gelehrt 
hätten.  In  der  folgenden  Frage  wird  die  andere  These  der 
T^euplatoniker  bestritten,  daß  die  Engel  Species  universales 
hätten.  In  der  36.  Frage  werden  die  Ideae  innatae  geleugnet, 
nachdem  bereits  in  der  ersten  Frage  über  die  Engel  (q.  32) 
die  Behauptung  aufgestellt  war,  daß  die  Intelligenzen  circum- 


1)  Ygl.  die  im  1.  Kap.  S.  6  Anm.  3 — 5  angefiilirte  Literatur. 

2)  Vgl.  Pseudo-Dionysius,  De  coelesti  liierarciiia,  auch  seine 
anderen  Schriften,  z.  B.  De  divinis  nominibus;  Liber  de  causis;  Proclus, 
STotxstoaLg  ^soXoytxT^ ;  Der  Traktat  De  intelligentiis  (ed.  Baeumker  in 
Witelo,  ebendort  die  Untersuchungen  über  den  Verfasser  und  die 
philosophiegeachichtliche  Stellung  des  Traktates). 


16  2.  Kapitel 

scriptive  in  loco  seien  und  nachdem  vorher  in  der  9.  Frage 
mit  besonderer  Hervorhebung  der  Creaturae  spirituales  ge- 
lehrt wurde,  daß  jedes  gesehöpfliche  Sein,  auch  das  Aevum, 
nach  einander  in  der  Zeit  verlaufe.  Das  alles  sind  bestimmte 
Absagen  an  den  Neuplatonismus ;  so  allseitig  war  nicht  einmal 
die  Absage  des  Thomas  v.  Aquin  gewesen  ^).  Anderseits  sind 
in  die  Erkenntnislehre  Olivis,  wie  wir  sehen  werden,  einige 
neuplatonische  Gedankenmotive  aufgenommen  und  in  ihr 
weiter  geführt  worden. 

Verwandt  mit  dem  empirischen  Zug  Olivis  ist  seine 
kritische  Einstellung  2).  Freilich  dürfen  wir  auch  hier  nicht 
den  modernen  Maßstab  anlegen,  sondern  müssen  ihn  im 
Eahmen  seiner  Zeit  betrachten,  deren  Sinn  weniger  auf 
Kritik,  mag  es  nun  historische,  literarische  oder  philosphische 
sein,  als  auf  Metaphysik  gerichtet  war  ^).  Und  da  reiht  sieh 
Olivi,  mit  seiner  Selbständigkeit  und  seiner  Unbefangenheit 
der  wissenschaftlichen  Autorität  gegenüber,  würdig  seinen 
Ordensgenossen  Roger  Bacon  und  Duns  Scotus  an. 

Mit  berechtigtem  Spott  geißelt  er  die  übertriebene  Ver- 
ehrung und  blinde  Gefolgschaft,  die  man  mancherorts  Aristo- 
teles zollte.  Wiederholt  äußert  er  Grundsätze  im  Sinn 
der  heutigen,  hochentwickelten  Kritik,  so  in  bezug  auf  den 
Stagiriten  :  wenn  dieser  und  seine  Anhänger  eine  Behauptung 
aufstellten,  sollten  sie  ihre  Gründe  darlegen,  dann  wolle  er 
sie  Unparteiisch  prüfen:  so  lange  das  nicht  geschehe  oder 
wenn  diese  nicht  beweiskräftig  seien,  behalte  er  seine  gut 
begründete  Meinung.  Fast  noch  deutlicher  spricht  für  seine 
Selbständigkeit,  wenn  er  sogar  von  seinem  hochgeschätzten 
philosophischen  Führer  Augustin  wiederholt  und  in  grund- 
legenden Fragen  abzuweichen  oder  gar  ihn  direkt  zu  wider- 
legen wagt.    So  verläßt  er  die  Augustinische  Erklärung  der 


1)  Vgl.  Baeumker,  Witelo,  besonders  das  lehrreiche  Sachregister, 
z.  B.  das  Stichwort  „Intelligenz". 

2)  Jansen,  Petrus  Joh.  Olivi.  Ein  lange  verschollener  Denker, 
S.  113  ff. 

3)  Vgl.  Baeumker,  Die  christl.  Philosophie  des  Mittelalters,  S.  535  f. ; 
Jansen,  Scholastische  und  moderne  Philosophie  (Stimmen  der  Zeit, 
100.  Bd.  (1921)  S.  253  ff.). 


Die  philosophische  Eigenart  Olivis  17 


Rationes  seminales,  vor  allem  seine  Erklärung  vom  Ursprung 
der  höheren  Erkenntnis. 

,  Weiterhin  verrät  Olivi  in  der  endgültigen  Stellungnahme 
zu  den  Fragen  selbst  so  viel  vorsichtiges  Abwägen,  kluges 
Überlegen  und  kritisches  Vorgehen,  daß  er  hierin  bei  aller 
sonstigen  Verschiedenheit  ein  Vorläufer  von  Duns  Scotus  zu 
sein  scheint.  Schon  das  Anhäufen  von  Einwänden  —  wieder- 
holt sind  es  zwanzig  bis  dreißig  —  liegt  in  dieser  Richtung. 
In  vielen  Fragen  erklärt  er  zurückhaltend,  za  einer  Ent- 
scheidung wegen  der  Dunkelheit  des  Gegenstandes  nicht 
gelangen  zu  können.  Anderswo  sagt  er  bescheiden,  er  tiber- 
lasse die  Entscheidung  besseren  Köpfen.  Auf  nicht  gewöhn- 
li^e  Urteilskraft  weist  die  Umsicht  hin,  mit  der  er  seine 
eigene  Ansicht  häufig  nur  als  wahrscheinlich  oder  wahr- 
scheinlicher hinstellt,  ohne  dadurch  der  entgegengesetzten 
etwas  von  ihrer  Beweiskraft  nehmen  zu  wollen.  Eingehend 
prüft  er  auch  die  Tragfähigkeit  der  Gründe.  So  nimmt  er 
wiederholt  einen  nach  dem  anderen  vor,  um  sie  alle  bis  auf 
einen  als  haltlos  zurückzuweisen.  Dabei  fehlt  es  ihm  gewiß 
nicht  an  der  Kraft,  schlußfähig  zu  werden,  wie  anderswo 
aus  seiner  bestimmten  Art  erhellt.  Diese  weise  Mäßigung 
und  besonnene  Zurückhaltung  kann  aber  bei  einem  so  leb- 
haften, ja  heftigen  Temperament  nur  der  Ausfluß  überlegener 
Verstandesgröße  sein".  ^) 

Diese  Zurückhaltung  —  ohne  diesen  charakteristischen 
Zug  wäre  das  Gesamtbild  der  wissenschaftlichen  Eigenart 
Olivis  unvollständig  —  ist  freilich  häufig  genug  ein  wenig 
Diplomatie  ^),  die  psychologisch  aus  dem  Widerstand  seitens 


1)  Jansen,  Petrus  Joh.  Olivi,  S.  114  ff. 

2)  Daß  Olivi  sich  nicht  bloß  in  der  Spekulation,  sondern  auch 
in  der  Praxis  den  Umständen  geschmeidig  anzupassen  grüßte,  zeigt 
seine  Stellungnahme  zur  Abdankung  Coelestins  V.  Während  seine 
folgerichtig  handelnden  Anhänger  sich  gegen  ihre  Gültigkeit  er- 
klärten, sprach  er  sich  für  sie  und  damit  für  die  Rechtmäßigkeit 
Bonifaz  VIII.  aus ;  dadurch  entging  er  noch  im  rechten  Augenblick 
neuen  Anfeindungen.  Vgl.  darüber  die  interessanten  Veröffentlichungen 
von  Liv.  Öliger  O.  F.  M.,  Petri  Joh.  Olivi  De  renuntiatione  Papae 
Coelestini  V.  Quaestio  et  Epistola  (Archivium  Erancisc,  Quaracchi, 
vol.  XI  (1918)  fasc.  III— IV);  vgl.  auch  K.  Balthasar,  Geschichte  des 

2 


18  2.  Kapitel 

der  Ordensleitung  leicht  erklärlich  ist,  teilweise  indes  bloß 
der  Ausdruck  der  uns  so  merkwürdig  anmutenden  mittel- 
alterlichen Scheu  ist,  trotz  der  eigenen  inneren  Überzeugung 
mit  der  entgegenstehenden  hergebrachten  Autorität  offen  zu 
brechen.  Wiederholt  kann  man  nämlich  die  Beobachtung 
machen,  daß  Olivi  an  der  Stelle,  wo  er  ex  professo  ein 
Problem  erörtert,  keine  endgültige  Entscheidung  gibt,  dagegen 
kurz  darauf  bei  Behandlung  einer  ganz  andern  Frage  ein- 
deutig seine  Stellungnahme  ausspricht.  So  vorbirgt  er  in 
Frage  58  seine  eigene  Ansicht  über  verschiedene  Punkte 
der  Erkenntnislehre  hinter  anderen  Vertretern  derselben, 
während  er  in  den  Fragen  72  bis  74  mit  seiner  Meinung, 
die  die  gleiche  geblieben  ist,  offen  herausrückt.  Noch  offejj- 
sichtlicher  ist  die  diplomatisch  gehaltene  Taktik  in  den 
Borghese-Handschriften  an  der  Stelle,  wo  er  die  Augusti- 
nische  Illuminationstheorie  zu  behandeln  hat.  Nachdem  er 
erklärt  hat,  er  wolle  sie  verteidigen,  quia  est  magistrorum 
non  minus  solemnium  nee  minus  catholicorum,  macht  er  so 
viele  Klauseln  und  Einwände,  daß  er  sie  tatsächlich  illu- 
sorisch macht,  ja  er  verteidigt  sogar  uneingeschränkt  die 
mit  ihr  ganz  unvereinbare  Aristotelische  Abstraktionstheorie, 
um  letztlich  ganz  diplomatisch  zu  erklären:  ista,  d.  h.  die 
gegen  den  Augustinismus  erhobenen  Schwierigkeiten,  quia 
plene  exponere  nescio,  idcirco  soliim  tamquam  cavenda  pro- 
pono,  'quia  licet  praedicta  propositio  in  se  sit  solemnis  et 
Sana,  istis  tamen  non  diligenter  observatis  posset  esse  valde 
periculosa ;  et  ideo  praedictam  positionem  secundum  se  teneo, 
quia  virorum  valde  solemnium  est,  praedictorum  tamen  ex- 
positionem  eorum  sapientiae  derelinquo.  Daß  es  tatsächlich 
nur  noch  die  sorgenvolle  Angst  vor  der  Autorität  ist,  wes- 
halb er  die  Augustinische  Ansicht  hält,  ist  zu  offenkundig, 
als  daß  man  darüber  noch  ein  Wort  zu  verlieren  hätte. 
Ähnlich  ist  die  Taktik  Olivis  in  der  damals  und  später 


Armutsstreites  im  Fraiiziskanerorden,  Münster  W.  1911,8.190.  Bereit» 
P.  Ehrle  hat  wiederholt  diese  Gewandtheit  und  Beweglichkeit  im 
Charakter  Olivis  durchblicken  lassen.  (Olivis  Leben  und  Schriften, 
Archiv,  TU  S.  409  ff.). 


Die  philosophiBche  Eigenart  Olivis  19 

80  viel  umstrittenen  Frage  nach  dem  Prinzip  der  Individu- 
ation  *).  Am  Schluß  der  12.  Quaestio,  wo  er  diesen  Gegen- 
stand mit  gewohnter  Ausführlichkeit  behandelt  und  wo  er  die 
gegnerischen  Ansichten  einander  gegenüberstellt,  erklärt  er: 
quidquid  autem  de  istis  opinionibus  verius  sit,  sapientiorum 
iudicio  derelinquo;  si  tamen  haberem  aliquam  teuere,  se- 
cundam  —  die  Aristotelisch-thomistische,  welche  einen  realen 
Unterschied  annimmt  —  teuerem,  quia  solemnior  et  com- 
munior  est,  licet  nullam  scirem  sustinere  ad  plenum.  Und 
doch  hatte  er  unmittelbar  vorher  in  der  Lösung  der  vierten 
Objektion  gesagt:  multi  concedunt  et,  prout  credo,  recte  et 
catholice,  quod  forma  habet  per  se  suam  individuationem, 
ita  quod  nuUo  modo  habet  eam  aut  contrahit  ex  materia. 
Dieselbe  Ansicht  nimmt  er  in  der  Lösung  der  dritten  Ob- 
jektion der  unmittelbar  folgenden  13.  Frage  in  Schutz.  In 
den  in  Venedig  1509  gedruckten  Quodlibeta  Olivis  heißt  es 
sodann  f.  52  r  a  —  zweite  Zählung  —  ad  undecimum: 
quaelibet  creatura  est  suum  esse,  quia  in  creatura  non 
differt  essentia  ab  esse.  Trotzdem  läßt  die  Quaestio  8  des 
Vaticanus,  die  ex  professo  diese  berühmte  Kontroverse  be- 
handelt, die  Frage  offen. 

Daß  Olivi  überhaupt  ungern  bei  Behandlung  von  heiklen 
Fragen  mit  seiner  Meinung  herausrückt,  geht  auch  aus  der 
bezeichnenden  Wendung  am  Schluß  der  15.  Frage:  an 
suppositum  seu  persona  addant  aliquid  ad  naturam,  in  qua 
et  per  quam  subsistunt,  hervor.  Nachdem  er  vorher  gesagt 
hatte:  quao  istarum  opinionum  sit  verlor,  sapientium  iudicio 
derelinquo,  rückt  er  am  Schluß  mit  seiner  persönlichen 
Ansicht  heraus,  aber  gewissermaßen  unter  Protest:  quoniam 
quidam  aliquando  importune  quaerunt. 

„Selbst  Beispiele  literarischer  Kritik,  feinen  Verständ- 
nisses für  sprachliche  Zusammenhänge  und  neuzeitlicher 
Bewertung  der  Quellen  finden  sich  nicht  selten.     So  betont 


1)  Correctoriuru,  art.  8  f.  8;  art.  29,  30  f.  17;  art.  2  ff.  46.  Unter 
den  von  Bischof  Stephan  Tempier  am  7.  März  1277  verurteilten  219 
Thesen  ist  auch  die  genannte  Aristotelische  Lehre  getroffen,  prop. 
41—43,  100,  101,  115,  116  (bei  Mandonnet,  Siger  de  ßrabant,  t.  2  p. 
179  sqq. ;  Denifle-Chatelain,  Chart.  Univ.,  Paris,  I  p.  543  sq.). 


20  2.  Kapitel 

er  bei  Erklärung  Aristotelischer  Stellen  die  Notwendigkeit 
und  den  Wert  guter  Übersetzungen.  Zum  Verständnis  von 
Averroeszitaten  macht  er  den  Zusammenhang  geltend,  weist 
die  erhobenen  Schwierigkeiten  mit  dem  Hinweis  zurück,  der 
Text  des  Kommentators  sei  verdorben. "  ^) 

So  ergibt,  sich  denn  als  Gesamtcharakteristik  des  Den- 
kers Olivi,  daß  er,  bei  all  seinem  konservativen  Augusti- 
nismus und  seinem  Anschluß  an  Aristoteles  in  manchen 
Einzelfragen,  ein  durchaus  eigenartiger  und  selbständiger 
Denker  ist,  den  man  ebenso  wenig  wie  etwa  Eoger  Bacou 
einfachhin  einer  Schule  einreihen  kann.  -)  Abgesehen  von 
der  ihm  eigentümlichen  Lehre  von  der  Information  des 
Menschen,  kommt  diese  scharf  umrissene  Individualität 
in  seiner  Auffassung  von  dem  Verhältnis  der  Seelenkräfte 
zur  Seelensubstanz,  in  der  Erklärung  und  Betonung  der 
absoluten  Aktivität  der  Willensfreiheit,  in  der  Formulierung 
des  Materien-  und  Formbegriffs,  in  der  Theorie  der  Be- 
wegung und  in  manch  andern,  weniger  bedeutsamen  Einzel- 
heiten zum  sprechenden  Ausdruck.  Nach  der  formell-me- 
thodischen Seite  spricht  sich  diese  seine  Eigenart  in  der 
fast  beispiellosen  Ausführlichkeit,  in  der  Stellungnahme 
zur  wissenschaftlichen  Autorität  und  in  der  kritischen  Ab- 
wägung manch  herkömmlicher  Beweise  aus. 

All  diese  wissenschaftlichen  Charakterzüge  werden  wir  in 
seiner  Erkenntnislehre  scharf  ausgeprägt  wiederfinden,  die  sich 
somit  harmonisch  in  das  Ganze  seines  Lehrgebäudes  einfügt. 


1)  Jansen,  Petrus  Joh.  Olivi,  S.  U5. 

2)  Die  Eigenart  Olivis  and  sein  vielfaches  Verlassen  der  Tradi- 
tionen seiner  Schule  tritt  besonders  deutlich  hervor,  wenn  man  ihn 
mit  seinen  Zeitgenossen  und  Ordensbrüdern  vergleicht;  außer  Aqua- 
aparta  vergleiche  man  etwa  J.  Pecham,  Quaestiones  tractantes  de 
anima,    ed.    Spettraann:   derselbe,   Die  Psychologie   des  Joh.  Pecham. 


3.  Kapitel. 

Die  literarische  Überlieferung  seiner  Erkenntnislehre. 

Um  dem  Leser  von  vornherein  einen  klaren  Überblick 
über  das  Ganze  der  so  eigenartigen  Erkenntnislehre  Olivis 
zu  ermöglichen,  machen  wir  in  vorliegendem  einige  Angaben 
über  ihre  literarische  Überlieferung. 

Ihre  zusammenfassende  Darstellung  findet  sie  in  dem 
größeren  Abschnitt  des  Vaticanus,  der  den  Titel  führt:  de 
actibus  et  habitibus  potentiarum  animae  und  da  wiederum 
vor  allem  in  den  drei  ersten  Fragen  72 — 74.  Quaestio  72 
lautet:  an  corpora  possint  agere  in  spiritum  et  in  eins  po- 
tentias  apprehensivas  et  appetitivas.  Nach  den  üblichen 
Objektionen  werden  drei  Vorfragen  behandelt :  de  vario 
modo  agendi  et  patiendi,  obiectum  est  causa  terminativa 
actus  cognitivi,  materia  aliquando  non  potest  subiacere  ac- 
tioni  aliquorum  agentium;  während  die  beiden  ersteren  be- 
deutungsvoll sind,  ist  die  letztere  ziemlich  belanglos.  Im 
darauf  folgenden  geschichtlichen  Überblick  werden  die  Ari- 
stotelische Abstraktionstheorie,  sodann  die  Ansicht,  wonach 
Körperliches  unmittelbar  auf  Geistiges  wirken  kann  und 
die  ihr  entgegenstehende  Augustinische  Lehre  dargelegt.  Es 
folgt  die  Aufzählung  und  Durchführung  der  vier  Punkte: 
corpus  ex  se  et  per  se  non  potest  aliquid  directe  in  spiri- 
tum; neque  hoc  potest  per  irradiationem  factam  ab  anima; 
per  viam  naturalis  colligantiae  potest  aliquid  fieri  a  corpore 
in  animam ;  obiectum,  in  quantum  terminat  aspectum  animae, 
cooperatur  productioni  actuum  et  ex  hoc  actus  habent  spe- 
ciem  ab  obiectis  ^).     Im  dritten  Punkt  und  in  der  ersten  Vor- 

1)  Vgl.  hierzu  Kap.  6. 


22  3.  Kapitel 

frage  wird  ex  officio  der  neue,  grundlegende  Begriff  der 
Colügantia  behandelt. 

Es  folgt  Frage  73:  an  virtus  cognitiva  secundum  suam 
essentiam  exterius  non  emissa  possit  ab  extrineseco  et  di- 
stanti  medio  vel  obiecto  absque  eorum  inf luxu  mutari.  Nach 
kurzer  Erwähnung  der  Aristotelischen  Spezies  und  der  Pla- 
tonischen Emission  wird  ausführlich  über  die  sonderbare 
Augustinische  Erklärung  der  Sinneserkenntnis,  daß  nämlich 
die  Sehkraft  bzw.  die  Seele  physisch  bis  zum  projizierten 
äußeren  Gegenstand  wandere,  berichtet.  Nach  Widerlegung 
der  Emissionstheorie  in  der  Platonischen  und  Augustini- 
schen  Form  führt  der  Verfasser  in  Anknüpfung  an  Augu- 
stinische Gedankenmotive  in  zwei  Hauptteilen  seine  eigen- 
artige, neue  These  durch,  daß  die  Erkenntnisfähigkeit  per  vir- 
tualem  aspectum  in  longinquum  attingit,  ubi  realiter  non  est, 
daß  sie  also  durch  eine  intentionale  Ausstrahlung  das  Ob- 
jekt ohne  dessen  physischen  Einfluß  geistig  berührt.  Da- 
nach ist  das  Subjekt  die  adäquate  Wirkursache  des  Erken- 
nens  und  das  intentionale  Berühren  kommt  einer  tatsäch- 
lichen Fernwirkung  gleich. 

In  Frage  74 :  an  principium  effectivum  actus  cognitivi 
sit  species  repraesentativa  obiecti  aut  habitus  aut  potentia 
vel  utrumque  simul  wird  zunächst  ausführlich  die  Aristote- 
lische Abstraktionslehre,  freilich  in  vielfacher  Entstellung, 
darauf  die  Augustinische  Ansicht  von  der  höheren  Erkenntnis 
dargelegt,  ohne  daß  indes  die  göttliche  Einstrahlung  und 
das  Schauen  in  den  Rationes  aeternae  berührt  würde ;  es 
schließt  sich  ein  Referat  über  Augustins  Theorie  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  an.  Nach  dieser  geschichtlichen  Ein- 
leitung entwickelt  der  Verfasser  in  sieben  Hauptpunkten, 
die  teilweise  dieselben  Ausführungen  mehrmals  bringen, 
seine  Auffassung.  Die  Grundgedanken  derselben  sind  fol- 
gende: die  völlige  Aktivität  der  Erkenntniskräfte  und  ihre 
kausale  Unabhängigkeit  vom  Objekt,  wie  das  bereits  in  den 
vorausgehenden  Fragen,  besonders  in  Frage  73,  betont 
wurde ;  die  Ablehnung  der  Spezies  als  einer  dem  eigent- 
lichen Erkenntnisakt  vorausgehenden  psychischen  Entität  (Spe- 
cies impressa),  die  den  Erkenntnisvorgang  einzuleiten  hätte ; 


Die  literarische  Überlieferung  seiner  Erkenntnislehre  23 

bei  Abwesenheit  des  Gegenstandes  vertritt  diesen  die  Spe- 
cies  memorialis  im  Sinn  Augustins,  im  Zusammenhang  hier- 
mit wird  das  Vorhandensein  eines  geistigen  Gedächtnisses 
verteidigt;  die  Natur  des  Habitus  und  seine  Notwendigkeit 
für  das  Zustandekommen  bestimmter  Akte  wird  dargelegt. 
Bedeutsam  sind  die  in  all  diese  Ausführungen  eingestreuten 
erkenntnistheoretischen  Bemerkungen  über  das  Wesen  des 
Erkennens  als  eines  intentionalen,  abbildhaften  Darstellens 
eines  äußeren  Sachverhaltes,  die  lebhaft  an  moderne  Aus- 
führungen, etwa  bei  Husserl  und  Geyser^),  erinnern.  Die 
ganze  Theorie  Olivis  ist  ein  selbständiges  Weiterführen 
Augustinischer  Gedankenmotive. 

Diese  drei  grundlegenden  Fragen,  die  in  ihrer  ersten 
Fassung  als  eine  Trilogie  bezeichnet  werden,  sind  später 
der  endgiltigen  Bedaktion  des  Vaticanus  einverleibt  worden. 
Sie  selbst  aber  sind  eine  Überarbeitung  des  letzten  Teiles 
der  Frage  58:  an  liberum  arbitrium  seu  voluntas  libera 
sit  potentia  passiva  vel  activa  und  berufen  sich  ausdrück- 
lich darauf,  während  umgekehrt  der  Index  —  zu  Frage  58 
—  im  Anfang  des  Vaticanus  auf  jene  hinweist.  Quaestio  58 
vertritt  in  scharfem  Gegensatz  zu  Thomas  und  im  Geist  des 
Scotus  die  volle  Aktivität  des  freien  Willens  ^).  Da  die 
dagegen  eingangs  erhobenen  Schwierigkeiten  zum  Teil  aus 
der  Analogie  des  Wollens  mit  dem  Erkennen  hergenommen 
sind,  wird  in  der  Lösung  derselben  ausführlich  auf  die 
Natur  der  Erkenntnis  eingegangen.  So  wird  in  der  Beant- 
wortung des  dreizehnten  Einwandes  die  Frage  verneint: 
an  Corpora  sensibilia  possint  per  se  generare  species  sim- 
plices  et  intellectuales  in  potentia  nostrae  mentis  et  iterum 
an  hoc  possint  per  irradiationem  intellectus  agentis;  es  ist 
dieselbe  Untersuchung  wie  im  ersten  und  zweiten  Teil  der 
Frage  72,  nur  daß  die  Beweismomente  zum  Teil  andere 
sind,  so  wird  u.  a.  gezeigt,  daß  die  Irradiatio  des  Verstandes 
nicht  in  einer  Excitatio  desselben  bestehen  könne.  Item  in 
responsione  ad  quartum  decimum  tangitur  quaestio,  an  omnes 
potentiae    apprehensivae   sint  passivae,   was  natürlich,  ähn- 

1)  Vgl.  hierzu  den  Anfang  von  Kap.  5. 

2)  Jansen,  Ein   neuzeitlicher  Anwalt   der  menschlichen  Freiheit 


24  3.  Kapitel 

lieh  wie  in  Frage  72 — 74,  energisch  verneint  wird.  Et  ad 
huius  evidentiam  pertractantur  Septem:  primo,  quod  actus 
potentiarum  non  sunt  immediate  ab  obiectis,  fehlt  in  Frage 
72 — 74;  secundo,  quod  non  sunt  a  solis  speciebu,  wird  ins 
q.  74  gestreift;  tertio,  quod  non  sunt  partim  ab  eis  et  partim 
a  potentiis,  deckt  sich  mit  Frage  74 ;  quarto,  quod  ipsi  actus 
sunt  species  seu  similitudines  obiectorum,  die  hier  berührten 
erkenntnistheoretischen  Gesichtspunkte  werden  weit  schärfer 
und  bestimmter  in  Frage  72  und  74  gefaßt;  quinto,  quod 
anima  non  potest  in  se  generare  species,  quae  sint  principia 
effectiva  suorum  actuum,  kehrt  in  Frage  74  wieder;  sexto, 
quod  potentiae  non  possunt  excitari  ab  obiectis  ad  gene- 
randum  huiusmodi  species  aut  ad  producendum  suos  actus, 
deckt  sich  teilweise  mit  Frage  74,  ist  aber  an  Gesichtspunkten 
reicher;  septimo,  quod  potentiae  sunt  sufficientes  ad  effici- 
endum  suos  actus  absque  coefficientia  facta  ab  obiectis  vel 
speciebus,  fällt  mit  dem  sechsten  Punkt  der  Frage  74  und 
mit  dem  Grundgedanken  der  Frage  72  zusammen.  Item  in 
responsione  ad  duodecimam  supprobationem  quarti  decimi 
argumenti  d.  h.  der  vierzehnten  Objektion  tangitur  quaestio, 
an  species  imaginariae  sint  incorporales  et  simplices,  die  im 
Anschluß  an  Augustin  entschieden  bejaht  wird;  in  respon- 
sione ad  tertiam  decimam  tangitur  quadruplex  causa,  quare 
potentiae  sensitivae,  quamvis  sint  activae  suorum  actuum, 
indigeant  organo,  in  erster  Linie  werden  metaphysisch-psy- 
chologische und  erst  in  zweiter  erkenntnis-psychologische 
Fragen  behandelt. 

Formell  besteht  insofern  ein  tiefgehender  Unterschied 
zwischen  den  Fragen  58  und  72 — 74,  als  Olivi  die  hier  vor- 
getragene Lehre  als  seine  persönliche  Ansicht  verteidigt,  dort 
aber  ganz  hinter  andere  Gewährsmänner  zurücktritt;  ein 
Verfahren,  das  sich,  wie  gesagt,  oft  wiederholt.  Offenbar  hielt 
er  es  damals  noch  nicht  für  zweckmäßig,  mit  seiner  eigenen 
Überzeugung  hervorzutreten  —  einerlei,  aus  welchen  Gründen 
— ;  tatsächlich  hatte  er  sich,  wie  deutlich  zwischen  den  Zeilen 
zu  lesen  ist,  eine  solche  schon  gebildet. 

Von  den  weiteren  für  die  Erkenntnislehre  in  betracht 
kommenden  Fragen  des  Vaticanus  ist  Quaestio  75:  an  quando 


Die  literarische  Überlieferung  seiner  Erkenntnislehre  25 

Deus  videtur  ab  intellectu  creato,  divina  essentia  teneat 
locum  speciei  repraesentantis  Deum,  rein  theologischer  Natur 
und  zeigt  in  ihrer  bestimmten  Verneinung  den  gewohnten 
Gegensatz  zu  Thomas  ^)  und  seiner  Schule,  im  Sinn  des 
Correctoriums  des  Wilhelm  de  la  Marc  2).  Noch  lebhafter 
führt  die  folgende  Untersuchung  in  die  damaligen  Kämpfe 
um  philosophische  Probleme  ein,  schon  der  Titel  spiegelt 
sie  wieder:  ex  praedictis  facile  est  videre,  quod  a  multis 
laboriose  quaeritur  et  a  quibusdara  erronee  pertractatur, 
quomodo  scilicet  anima  sciat  se  ipsam,  an  scilicet  per  speciem 
seu  per  essentiam  et  an  per  immediatam  reflexionem  sui 
aspectus  super  se  aut  primo  dirigendo  aspectum  ad  phan- 
tasmata.  Im  Sinne  des  Augustinismus,  wie  ihn  vor  allem 
die  ältere  Franziskanerschule  vertrat,  nimmt  Olivi  ein  un- 
mittelbares oder  intuitives  Erfassen  der  Seelensubstanz  an, 
die  vollkommene  Erkenntnis  derselben  knüpft  dann  syllo- 
gistisch  fortschreitend  an  das  Ergebnis  dieses  ersten  Schauens 
an.  Frage  78 :  an  unico  simplici  actu  sciantur  plures  termini 
eiusdem  propositionis  aut  plura  extrema  eiusdem  correlationis 
aut  plures  partes  eiusdem  totius^),  wird  dahin  entschieden, 
daß  die  verschiedenen  Glieder  insofern  zugleich  erkannt 
werden,  als  sie  eine  Einheit  bilden. 

Auffälligerweise  wird  der  Augustinische  Erkenntnis- 
apriorismus  vom  Schauen  der  Wahrheit  im  höheren  Licht 
nirgends  im  Vaticanus  eingehend  behandelt  und  nur  gelegent- 
lich gestreift,  so  in  Frage  38.  Um  so  ausführlicher  wird 
diese  im  dreizehnten  Jahrhundert  so  viel  umstrittene  Frage 
in  den  beiden  Borghese-Handschriften  358  (f  56^^ — 62^)  und 
322  (f  179^—183^)  erörtert^). 

Da  zwischen  der  Erkenntnislehre,  wie  sie  in  den  Borghese- 
Handschriften  und  im  Yaticanus  dargelegt  wird,  einige  saeh- 


1)  Deverit.,  q.  10  a.  11  ;  Sent.,  IV.  dist.  49  quaest.  2  a.  7;  S.  th., 
I  q.  12  a.  2;  S.  th.,  2  II  q.  175  a.  3. 

2)  Fol.  3.  art.  1. 

3)  Vgl.  Thomas,  S.  th.,  1  q.  85  a.  4.  Dieselbe  Fragestellung  kehrt 
bei  den  damaligen  Scholastikern  häufig  wieder. 

4)  Einen  Teil  der  ersten  Frage  des  Codex  358  haben  bereits  die 
Franziskaner  am  Schluß  der  Anecdota  p.  245 — 248  abgedruckt. 


26  3.  Kapitel 

liehe  Verschiedenheiten  vorhanden  sind,  muß  zuerst  ihre 
Herkunft  von  Olivi  in  Sicherheit  gestellt  werden,  ehe  man 
aus  ihnen  schöpfen  kann.  Freilich  haben  Pidelis  a  Fanna  ^), 
die  Herausgeber  der  Auecdota^)  und  Franz  Ehrle^),  gewiß 
hervorragende  Kenner  der  mittelalterlich-scholastischen  Hand- 
schriften, ihren  Inhalt  im  großen  ganzen  unbedenklich  Olivi 
zuerkannt.  Was  zunächst  Codex  358  betrifft,  so  enthält 
er  bloß  Fragen  von  Olivi,  ist  also  kein  Sammelband.  Außer- 
dem bemerkt  zweimal  eine  Eandnote:  istud  volumen  de  doc- 
trina  fratris  Petri  Jobannis  productum  est  coram  Reverendo 
Patre  Domino  Petro  de  Reblaio ;  auch  sonst  wird  am  Eand 
der  Name  Ohvis  ausdrücklich  genannt  oder  unzweideutig 
auf  seine  Lehre  hingewiesen.  Mit  Ausnahme  des  Traktates 
über  die  Armut  und  einer  einzigen  Frage  (f  154),  die  beide 
sachlich  nicht  in  den  Zusammenhang  des  Vaticanus  gehören, 
finden  sich  alle  Partien  des  Borghese-Kodex  dort  wieder. 
Also,  dürfen  wir  schließen,  wird  auch  die  f  56  sqq.  behan- 
delte Erkenntnislehre  Olivi  zum  Urheber  haben.  Die  Hand- 
schrift 322  enthält  freilich  auch  Untersuchungen,  die  von 
andern  Verfassern  herrühren,  indes  wird  dann  eigens  be- 
merkt: quaestio,  quao  non  est' Fratris  Johannis. 

Zu  diesen  äußeren  Kriterien  gesellen  sich  so  viele  innere, 
daß  beide  zusammengenommen  keinen  vernünftigen  Zweifel 
an  der  Verfasserschaft  Olivis  übrig  lassen.  Trotz  der  inhalt- 
lichen'Verschiedenheiten,  die  vor  allem  darin  bestehen,  daß 
an  Stelle  der  aus  dem  Phantasma  abstrahierten  Species  der 
Borghese-Handschriften  im  Vaticanus  die  Colligantia  poten- 
tiarum  als  Vermiltlung  vom  niedern  zum  höhern  Erkenntnis- 
vermögen tritt,  sind  der  sachlichen  Berührungspunkte  doch 
weit  mehr.  Zunächst  wird  stets  die  Augustinische  Illumi- 
nationstheorie abgelehnt,  was  bei  der  Bedeutung  und  Aktu- 
alität  derselben  im   dreizehnten  Jahrhundert  sehr  auffällig 


1)  Zigliara,  De  mente  Concilii  Viennensis,  p.  106  sqq.,  Zigliara 
benützte  Auszüge  ans  BorghesC'Handschriften,  die  ihm  der  gelehrte 
P.  Fideiis  a  Fanna  übermittelt  hatte,  besonders  aus  dem  Codex,  der 
jetzt  der  Vatik.  Bibliothek  einverleibt  die  Signatur  358  trägt. 

2)  p.  245. 

3)  Archiv,  III  S.  473. 


Die  literarische  Überlieferung  seiner  Erkenninislehre  27 

ist,  zumal  Olivi  in  der  Grundrichtung  seines  Philosophierens 
Anhänger    der    konservativen    Richtung    ist*).      Umgekehrt 


1)  Vgl.  damit  z.B.  Aquasparta,  mit  dessen  Lehre  diejenige  Olivis 
sonst  so  viele  Berührungspunkte  hat,  yvie  ja  auch  beide  der  älteren 
Pranziskanerschule  angehören  und  überdies  fast  zu  gleicher  Zeit 
lebten  (vgl.  Grrabmann,  Aquasparta;  Ehrle,  Das  Studium  der  Hand- 
schriften, S.  40).  Die  zweite  Frage  bereits  über  den  Grund  der  Er- 
kenntnis (p.  241 — 269)  entscheidet  sich  ganz  in  Übereinstimmung  mit 
Bonaventura  (De  sciontia  Christi;  Utrum  quidquid  cognoscitur  cog- 
noscatur  in  ipsis  rationibus  aeternis ;  Itinerarium  mentis,  cap.  2  n.  46 ; 
J.  Eberle,  Die  Ideenlehre  Bs.,  Freiburg  Br.  1911)  für  die  Erkenntnis 
von  oben  in  den  Rationes  ideales,  wenngleich  zu  diesem  höheren  Weg 
der  von  unten  oder  voii  der  Erfahrung  hinzukommen  muß.  —  Ähn- 
lich hält  Roger  Marston  an  der  Illuminationslehre  fest  (Anecdota,  p. 
197  sqq.),  verbindet  damit  aber  Erfahrungselemente  der  Aristotelischen 
Abstraktiönstheorie  (A.  Daniels,  Anselmzitate,  S.  43  f.).  —  Yen  geschicht- 
licher Bedeutung  ist,  daß  sich  Olivi  in  dem  Verlassen  der  Augustinischen 
Erkenntnislehre  und  in  dem  Ausgehen  von  der  Erfahrung  Richard  v. 
Middletown  verwandt  zeigt:  in  lumine  naturali  possum  intelligere 
aliquid  verum  creatum,  cum  ipsum  lumen  naturale  sit  intellectui  no- 
stro  a  Deo  Impressum  .  .  .  possumus  dicere,  quod  naturaliter  possumus 
intelligere  aliquod  verum  creatum  in  aeterna  veritate  sicut  in  ratione 
cognoscendi  mediante  lumine  naturali  nobis  impressa  ab  ipsa;  sicut 
dicimus  oculum  corporalem  videre  aliquid  in  sole,  quia  videt  in  lumine 
aolis,  hoc  est,  in  lumine  corporali  causato  a  sole  (Anecdota,  p.  235). 
Vgl.  Minges,  Skotistisches  bei  Richard  von  Mediavilla,  S.  75  ff.,  dort 
auch  verschiedene  Belegstellen.  —  Auch  Wilhelm  von  Ware,  englischer 
Franziskaner,  den  P.  Ehrle  (Theol.  Zeitschrift,  17.  Bd.  S.  41 ;  Die 
Ehrentitel  der  scholastischen  Lehrer  des  Mittelalters,  München  1919, 
S.  21  f.)  als  Vorläufer  des  Scotus  bezeichnet,  vielleicht  gestützt  auf 
die  handschriftliche  Überlieferung  des  14.  Jahrhunderts,  die  August 
Daniels  (Wilhelm  von  Ware  über  das  menschliche  Erkennen,  in 
Baeumker-Festschrift,  Münster  W.  1913,  S.  309)  aus  dem  Codex  1424 
der  Wiener  Hofbibliothek  fol.  169  V  bringt,  weicht  stark  von  der 
Lehre  der  älteren  Pranziskanerschule  ab :  unde  concedendum  est,  quod 
anima  potest  videre  aliqua,  immo  omnia  naturaliter  cognoscibilia  me- 
diante lumine  naturali  sine  aliquo  lumine  supernaturali,  supposita  di- 
vina  influentia  generali  (bei  Daniels,  p.  316);  ähnlich  pp.  314—315. 
Das  deckt  sich  ganz  mit  der  Ansicht  Olivis.  —  Wie  die  neuere 
Forschung  gezeigt  hat,  nähern  sich  die  jüngeren  Vertreter  der 
älteren  Franziskanerschule  in  verschiedenen  Punkten  stark  dem 
fortschrittlichen  Aristotelismus  des  Duns  Scotus,  der  bekanntlich  an 
die  Stelle  der  Augustinischen  Einstrahlung  die  Aristotelische  Ab- 
straktion  setzt  (Sent.  (Opus  Oxoniense),  I  d.  3,  q.  4).  Zu   diesen  fort- 


28  3.  Kapitel 

scheint  der  Kernpunkt  der  Aristotelischen  Theorie,  wonach  das 
höhere  Erkennen  aus  der  Erfahrung  abgeleitet  wird,  auch 
im  Vaticanus  beibehalten  zu  sein.  Ja  noch  mehr:  auch  hier 
finden  sich  Stellen,  wonach  der  Verstand  die  höhere  Er- 
kenntnis durch  Abstraktion  aus  der  Erfahrung  gewinnt,  was 
gewiß  ein  gewichtiges  Zeichen  für  die  Identität  des  Ver- 
fassers beider  Handschriften  ist  ^). 

Dazu  kommen  ebenso  schwer  wiegende  Ähnlichkeiten  in 
formeller  Hinsicht.  Wir  berührten  vorhin  bereits  das  diploma- 
tische Verfahren  Olivis,  das  sich  ebenso  stark  durch  die  schrift- 
stellerische Art  des  Vaticanus  hindurchzieht,  wie  es  verschie- 
dentlich in  seiner  praktischen  Handlungsweise  nachgewiesen 
werden  kann*).  Diese  Taktik  nun  springt  nirgends  so  in  die 
Augen  wie  in  der  vorwtirfigen  Frage  der  Borghese-Hand- 
schriften.  Obschon  der  volle  Nachweis  hierfür  erst  im  Ver- 
lauf dieser  Darstellung  dokumentarisch  zu  führen  ist,  möge 
trotzdem  an  dieser  Stelle  nochmals  auf  das  im  vorigen  Ka- 
pitel hierüber  Gesagte  verwiesen  werden.  Hierzu  kommt, 
daß  die  fragliche  These  von  derselben  Kampfesstimmung 
gegen  Thomas  getragen  ist,  die  dem  Vaticanus  seine  eigen- 
artige, temperamentvolle  Note  gibt.  Obschon  nämlich  Olivi 
sowohl  sachlich  als  formell  genau  so  verfährt  wie  der 
Aquinate^),  der  bekanntlich  den  Worten  nach  die  Augusti- 
nischen  Rationes  aeternae  hielt,  in  der  Tat.  sie  aber  preis- 
gab, und  obgleich  er  gerade  wie  dieser  das  Psalmen  wort: 
signatum  est  super  nos  lumen  vultus  tui,  Domine  (Ps  4,  7)  als 
Ausdruck  des  persönlichen  Ausgleichs  zitiert*),  so  polemisiert 


schrittlichen  Vertretern  zählen  nun  neben  Richard  v.  Middletown  (Ueber- 
weg-Baumgartner,  ö.  457),  in  mancher  Beziehung  auch  Olivi,  wie  ich 
das  anderswo  bereits  hervorgehoben  habe  (Die  handschriftliche  Über- 
lieferung, S.  147),  und  Petrus  de  Trabibus. 

1)  Vgl.  das  12.  Kap.  S.  100  f. 

2)  Vgl.  die  hierfür  im  2.  Kap.  S.  17  ff.  angeführten  Belege. 

3)  S.  th.,  q.  84  a.  5;  v.  Hertling,  Augustinus-Zitate,  S.  576  ff. 

4)  Die  Herausgeber  der  Anecdota  schließen  die  Wiedergabe  der 
Lehre  Olivis  über  die  Augustinische  Erkenntnislehre  nach  dem  Borgh.» 
Codex  358  mit  folgenden  Worten :  ex  his  fragmentis  apparet  auctorera 
hunc  haerere  dubium  inter  utramque  sententiam  ab  ipso  explicatam 
—  die  Augustinische  und  Aristotelische  —  ipsumque,  ut  nobis  videtur^ 


Die  literarische  Überlieferung  seiner  Erkenntnislehre  29 

©r  trotzdem  gegen  diese  gekünstelte  Auslegung  der  Lehre 
Augustins :  modus  autem,  quo  Augustini  dicta  exponunt,  etiam 
modicum  intelligenti  faciliter  apparere  potest,  quia  non  sapit 
mentem  Augustini.  Ein  widerspruchsvolles  Verfahren,  das 
psychologisch  wohl  nur  aus  der  habituellen,  tief  eingewurzel- 
ten Kampfesstimmung  des  Spiritualenführers  gegen  die 
Aristoteliker  und  speziell  gegen  ihren  hervorragendsten  Ver- 
treter, Thomas  v.  Aquin,  zu  erklären  ist.  Wiederum  ein  neuer 
Beweis  für  die  Einheit  der  Persönlichkeit  des  Verfassers^). 

non  perfecte  perspectas  habuisse  rationes  S.  Bonaventurae.  T^ihilominus 
cautelae,  quae  secundum  ipsum  in  explicanda  hac  sententia  observari 
debent,  et  etiam  difficultates,  quae  solvi  debent,  attentione  dignae 
esse  videntur  (p.  248).  Dieses  Urteil  konnten  die  Franziskaner  nach  dem 
damaligen  Stand  der  Olivi-Kenntnis  (1883)  — erst  1887  kam  die  Forschung 
durch  P.  Ehrle  in  Fluß  —  fällen;  interessant  ist,  Tvie  fein  sie  bereits 
die  Doppelstellung  Olivis  fühlten.  Erst  ein  Vergleich  mit  der  stets 
wiederkehrenden  Taktik  im  Vaticanus  ergibt  die  Gewißheit,  daß 
Olivi  hier  häufig  eine  Rolle  spielt. 

1)  Höchst  auffällig  ist,  daß  der  Olivis  Lehrrichtung  so  nahe  ver- 
wandte Petrus  de  Trabibus  ebenfalls  eine  Wandlung  in  der  Erkennt- 
nislehre durchgemacht  hat.  Auch  er  vermittelt  den  Übergang  vom 
niederen  zum  höheren  Erkennen  durch  die  Colligantia,  bekennt  aber, 
früher  die  Augustinische  Lehre  gehalten  zu  haben.  Ich  entnehme 
dies  den  Auszügen,  die  P.  Ehrle  aus  dem  Sentenzenkommentar  des 
Petrus  de  Trabibus  (Cod.  Florent.  Bibl.  JS'ation.  1149  B.  5)  gemacht 
und   die    er    mir  gütigst  zur  Verfügung  gestellt  hat. 

Eine  sorgfältige  Vergleichung  beider  Autoren  bestätigte  mir  die 
merkwürdige  Übereinstimmung  nicht  nur  in  der  Gesamtrichtung 
der  Doktrin,  sondern  auch  in  der  Einzelausführung,  worauf  bereits 
P,  Ehrle  (Archiv,  III  459)  nachdrücklich  aufmerksam  gemacht  hatte. 
Diese  Übereinstimmung  geht  vor  allem  auf  den  Materien-  und  Form- 
begriff, die  eigenartige  Seelen-  und  Informationslehre,  das  Ver- 
hältnis der  Seelensubstanz  zu  den  Kräften,  die  Zusammensetzung  der 
Geister  aus  Materie  und  Form,  weiterhin  auf  die  Engellehre,  die  bei 
beiden  sehr  ausführlich  dargestellt  wird,  auf  das  Wesen  der  Erbsünde, 
auf  das  Individuationsprinzip. 

Auch  in  der  Erkenntnislehre  herrscht  sachlich  Übereinstimmung : 
beide  lehnen  die  Augustinische  und  im  Grunde  auch  die  Aristotelische 
Erklärung  ab  und  setzen  an  deren  Stelle  die  CoUigantia-Theorie. 
Indes  beschränken  sich  die  Ausführungen  des  Petrus  de  Trabibus,  so- 
viel ich  aus  den  Auszügen  des  P.  Ehrle  ersehen  konnte,  auf  diese 
beiden  Zentralpunkte ;  die  weiteren,  reichen  Darlegungen  Olivis  über 
das  Erkennen  fand  ich  dort  nicht. 


30  3.  Kapitel 

Daß  man  überhaupt  von  einem  Wandel  in  den  philo- 
sophischen Anschauungen  Olivis  nicht  zu  sehr  überrascht 
sein  darf  —  wie  ja  auch  Thomas  und  andere  mittelalter- 
liche Denker  ihre  Entwicklung  durchgemacht  haben  — , 
erhellt  selbst  aus  dem  Vaticanus.  Dort  erwähnt  er  mehr 
als  einmal,  z.  B.  im  siebten  Teil  der  74.  Frage,  daß  er  in 
bezug  auf  einen  bestimmten  Lehrpunkt  seine  Ansicht  geändert 
habe:  sciendum  tamen,  quod  quidam  habitus  insunt  potius 
eis  [potentiis]  ex  redundantia  essentialis  efficaciae  et  ordinis 
ipsius  potentiae  quam  ex  praeexigentia  ipsorum  ad  actus 
peragendos;  et  hoc  modo  insunt  intellectui  et  voluntati 
habitus  naturalis  notitiae  et  amoris  sui  et  suorum  connatu- 
ralium,  prout  in  quaestione,  an  hi  habitus  sint  accidentia, 
ostendi,  quamvis  in  quaestione,  an  in  homine  sit  liberum 
arbitrium,  in  responsione  ad  duodevicesimum  argumentum 
contrariura  scripserim. 

Nehmen  wir  alle  diese  äußeren  und  inneren  Kriterien 
zusammen,  so  müssen  wir  die  in  den  Borghese-Handschriften 
358  und  322  befindlichen  Fragen  über  die  Erkenntnis  Olivi 
zuschreiben  ')  und  haben  damit  eine  sichere  handschriftliche 
Grundlage  der  nun   folgenden  Ausführungen  gewonnen. 

Die  erste  der  beiden  Fragen  lautet :  an  aliquid  directe 
et  immediate  seu  positive  a  nobis  apprehensum  sit  Deus, 
quod  non  est  aliud  quaerere  quam  an  Deus  videatur  a  nobis. 
Olivt  leugnet  das  entschieden.  Von  geschichtlicher  Bedeu- 
tung ist,  daß  er  weitläufig  von  Ontologisten  zu  berichten 
weiß,  die  Augustin  in  ihrem  Sinn  erklärten.  Weiterhin  ist 
hervorzuheben,  daß  Olivi  in  der  Lösung  der  sechsten  Schwie- 
rigkeit scharf  gezogene  Grundlinien   erkenntnistheoretischer 


Uiesen  inneren  Kriterien,  die  für  die  Möglichkeit  der  Identität 
beider  Öcholastiker  sprechen  könnten,  stehen  entscheidende  äußere 
Bezeugungen  entgegen,  wie  u.  a.  aus  Wadding-Sbaralea  Supplemen- 
tum,  p.  61 1  sq.  über  Petrus  de  Trabibus,  p.  595  sqq.  über  Petrus 
OÜTi,  378  Über  Jacobub  Trisanto,  der  Petrus  Trabibus  wiederholt 
zitiert,  ersichtlich  ist. 

1)  Ernst  Bernheim,  Lehrbuch  der  historischen  Methode,  6.  Aufl. 
Jjeipzig  1908;  Alfred  Feder,  Lehrbuch  der  historischen  Methodik,  2. 
Aufl.  Hegensburg  1921. 


Die  literarische  Überlieferung  seiner  Erkenntnislehre  31 

Natur  gibt  und  im  Gegensatz  zur  CoUigantia-Erklärung  des 
Vaticanus  mit  ausdrücklicher  Berufung  auf  Aristoteles  alle 
höhere  Erkenntnis  durch  Species,  die  aus  der  Erfahrung 
abstrahiert  sind,  bewirkt  sein  läßt.  Die  zweite  Frage  lautet: 
quoniam  autem  auctoritates  Augustini  in  praemissa  quae- 
stione  positas  indiscussas  transii,  ut  plenius  videatur,  quo- 
modo  a  magistris  modernis  varie  exponuntur,  ideo  ad  huius 
evidentiam  quaerenda  sunt  duo  iuxta  hoc,  scillicet  an  ra- 
tiones  aeternae  sint  nostro  intellectui  ratio  intelligendi  omnia 
et  an  lux  increata  irradiet  intellectum  nostrum  quadam  spe- 
ciali  irradiatione  in  omni  actu  intelligendi.  Nach  einem  Be- 
richt über  die  verschiedenen  Erklärungsversuche  der  dies- 
bezüglichen Stellen  Augustins,  wobei,  wie  gesagt,  die  Tho- 
mistische  Erklärung  besonders  scharf  abgelehnt  wird,  be- 
hauptet er,  Augustin  folgen  zu  wollen^  um  ihn  dann  tatsächlich 
im  Verlauf  seiner  Auseinandersetzung  zu  widerlegen. 

Die  eigene  Ansicht  in  diesen  Borghese-Haudschriften, 
die  wie  in  den  Prolegomenen  der  Ausgabe  zu  zeigen  ist, 
vor  dem  Vaticanus  abgefaßt  sind,  ist  also  ein  entschiedener 
fortschrittlicher  Aristotelismus,  der  aus  Opportunitätsgründen 
durch  die  Lehre  des  Augustinismus  verborgen  und  geschützt 
wird.  Vergleichen  wir  damit  den  Lehrstandpunkt  im  Vati- 
canus, so  bedeutet  er  in  mannigfacher  Beziehung  eine  rück- 
läufige Bewegung  zum  Augustinismus,  wobei  freilich  der 
Grundgedanke  des  Aristotelismus  vom  Zusammenwirken  sinn- 
licher Erfahrung  und  schöpferischer  Aktivität  des  Verstandes 
gewahrt  wird.  Somit  tritt  in  dieser  letzten  Darstellung  so- 
wohl das  Selbständige  der  neuen  Synthese,  wonach  sich 
alles  höhere  Erkennen  in  produktiver  Betätigung  des  Ver- 
standes und  in  Anknüpfung  an  die  Erfahrung  ohne  irgend- 
welchen ursächlichen  Einfluß  des  Objektes  vollzieht,  als  auch 
die  Herübernahme  Aristotelisch-augustinischer  Gedankenele- 
mente klar  und  bestimmt  zu  Tage. 


im  1MST1TUTE  OF  MEDIAB'Al  STÜDIES 

;0  ELT.ISLEV   PLACE 
TORONTO  6,   CANADA, 


4.  K  a  p  i  t  e  1. 

Die  Grundlinien  seiner  Psychologie. 

N^otwendiger  vielleicht  als  bei  der  Mehrzahl  anderer 
Philosophen  ist  bei  Olivi  zum  vollen  Verständnis  seiner  Er- 
klärung der  Erkenntnis  Vorgänge  eine  klare  Darlegung  über 
das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele  und  über  die  psychische 
Eigenart  der  niederen  und  höheren  Erkenntniskräfte  voraus- 
zuschicken ^) ;  denn  bei  kaum  irgend  einem  anderen  Denker 
ist  dieses  Gefüge  so  verwickelt  wie  bei  ihm.  Folgendes  ist  etwa 
das  abgerundete  Bild  vom  Verhältnis  zwischen  Leib  und  Seele. 
Der  zu  informierende  Leib  ist  ein  physikalisch  und  chemisch 
aufgebauter  und  organisierter  I^aturkörper.  Die  Seele  hat 
eine  Materia  spiritualis,  in  der  folgende  drei  Teilformen 
gewurzelt  sind  2):  die  Forma  vegetativa,  sensitiva  und  intel- 

1)  Jansen,  Die  Lehre  Olivis  über  das  Verhältnis  von  Leib  und 
Seele;  Quonam  spectet  definitio  Concilii  Viennensis  de  anima.  Lehr- 
reich* ist  ein  Vergleich  der  Psychologie  Olivis  mit  der  anderer  Scho- 
lastiker seiner  Richtung,  von  denen  er  indes  in  mannigfacher  Bezieh- 
ung wieder  abweicht:  Siebeck,  Geschichte  der  Psychologie;  Werner, 
Die  Psychologie  des  Wilhelm  von  Auvergne ;  Lutz,  Die  Psycho- 
logie Bonaventuras;  Spettmann,  Die  Psychologie  des  J.  Pecham; 
Höver,  Bog.  Bacons  Hylomorphismus;  vgl.  auch  Baeumker,  Bog. 
Bacons  Naturphilosojohie. 

2)  In  den  Franziskanischen  Studien  (z.  B.  S.  40  f.)  und  im  Gre- 
gorianura  (z.  B.  p.  87)  schrieb  ich,  daß  die  vegetative  und  sensitive 
Form  auch  die  geistige  Materie  „informieren" ;  nachträglich  habe  ich 
Stellen  gefunden,  die  das,  wenigstens  schlußweise  und  mittelbar,  zu 
leugnen  scheinen,  während  andere  bisher  nicht  herbeigezogene  Stellen 
die  frühere  Auffassung  neu  bekräftigten.  .  Ich  möchte  deshalb  diese 
„Information"  einstweilen  nur  als  wahrscheinlich  hinstellen;  möglich 
daß  Olivi,  wie  in  andern  Lehrstücken,  so  auch  in  diesem  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  eine  verschiedene  Ansicht  vertreten  hätte.  Wie 
dem  auch  sei,  ob  die  vegetative  und  sensitive  Form  die  geistige  Ma- 


Die  Grundlinien  seiner  Psychologie  33 

lectiva,  von  denen  letztere  jedenfalls  als  Form  die  geistige 
Materie  determiniert.  Der  vegetative  und  sensitive  Seelen  teil 
sind  durch  sieh  selbst,  ohne  weitere  Vermittlung,  Form  des 
Körpers,  nicht  so  der  intellektive .  Er  ist  es  jedoch  mittel- 
bar, d.  h.  durch  Vermittlung  der  beiden  andern  Formen 
und  der  geistigen  Materie  ;  dadurch  nämlich,  daß  er  die 
geistige  Materie  informiert,  mit  der  auch  die  beiden  andern 
den  Körper  unmittelbar  informierenden  Seelenteile  aufs  in- 
nigste verwachsen  sind  (radicatae),  ist  auch  er  substantiell 
mit  dem  Körper  verbunden.  Weil  endlich  die  intellektive 
Form  die  abschließende  und  krönende  Teilform  ist  und 
als  solche  die  ihr  untergeordneten  im  Sinne  Piatons  und 
Descartes'  gleich  Untertanen  oder  Werkzeugen  lenkt,  so  re- 
giert sie  als  höchstes  Prinzip  auch  letztlich  den  Körper, 
aber  nicht  per  se,  sondern  per  formam  sensitivam  et  vege- 
tativam.  Die  Verbindung  der  Forma  intellectiva  mit  dem 
Körper  ist  also  tatsächlich  keine  Seins-  oder  formelle  Eini- 
gung, sondern  eine  rein  dynamische^).  Das  einigende  Band 
von  Leib  und  Seele  ist  mithin  letzlich  die  geistige  Materie, 
die  Olivi  im  Anschluß  an  Augustin  ^)  und  den  Augustinismus 
auch  für  die  immateriellen  Wesen  verlangt,  um  den  Unter- 
schied zwischen  Gott  als  der  reinen  Aktualität  und  den  Ge- 
schöpfen, deren  Sein  stets  Potentialität  beigemischt  ist,  zu 
wahren.  In  der  ganzen  Psychologie  Olivis  nimmt  sie  eine 
hervorragende  Stellung  ein  und  wird  uns  darum  anderswo 
noch  wieder  begegnen. 

Es  entsteht  nun  die  Frage,  wie  läßt  sich  trotz  dieses 
Auseinanderreißens  der  Pars  intellectiva  und  sensitiva  die 
Einheit  des  Bewußtseins  erklären.     Die  Tatsache  derselben 


terie  informieren  oder  nur  in  ihr  gew^urzelt  sind  (radicatae)  —  ein  immer- 
hin unklarer  Ausdruck  — ,  für  das  Granze  seiner  Informationslehre  ist 
dieser  Punkt  belanglos. 

1)  Dies  ist  der  eigentliche  Punkt,  der  von  der  bekannten  Kon- 
zilsentscheidung getroffen  wurde.  Demgegenüber  wird  definiert,  daß 
die  Verbindung  der  menschlichen  Seele  mit  dem  Leib  eine  formale 
sei.  Anderseits  beschränkt  sich  aber  auch  das  kirchliche  Dekret  auf 
die  Erhebung  dieses  Lehrstückes  zum  Glaubenssatz  (Jansen,  Gregoria- 
num,  p.  88:  Franziskanische  Studien,  S.  256f.). 

2)  Confess.,  XII  6,  7,  8,  12,  13:  De  genesi  ad  lit.,  I  14,  15. 

3 


34  4.  Kapitel 

wird  mit  Nachdruck  hervorgehoben,  80  in  Frage  31.  Sie  dient 
als  hauptsächlichstes  Beweismaterial  für  die  oft  wiederkehrende 
Behauptung,  daß  die  Pars  intellectiva,  wenngleich  sie  nicht 
durch  sich  den  Körper  informiere,  doch  substantialiter  mit 
ihm  und  der  Pars  sensitiva  verbunden  sei.  So  heißt  es  auch 
in  Frage  58,  im  ersten  Teil  der  Lösung  der  vierzehnten  Ob- 
jektion: ita  dicimus  per  intellectum  ^ego  video  vel  audio*, 
slcut  „ego  intelligo".  Gleich  darauf  wird  die  Erklärung 
dieser  Einheit  gegeben:  quia  superior  potentia  habet  se 
ad  inferiorem  sicut  forma  radicalis  et  principalis  ad  instru- 
mentalem, idcirco  totus  aspectus  superioris  potentiae  est 
directus  et  summe  intimatus  potentiae  inferiori,  inferior  autem 
est  firmata  et  conclusa  quodam  modo  in  superiori  sicut  in 
sua  radice.  Et  per  hunc  modum  unitissime  concurrunt  et 
fundantur  in  eodem  supposito.  Et  ideo  actus  inferioris  po- 
tentiae ita  est  intime  praesens  aspectui  superiori  et  consi- 
militer  virtus  ipsum  producens,  quod  suo  modo  intime  et 
ita  cito  advertit  et  sentit  eos  sicut  et  suos. 

In  der  Psychologie  der  Erkenntniskräfte  schließt  sich 
Olivi  aufs  engste  an  Ä.ugustin  an,  vielleicht  enger  als  in 
irgend  einem  andern  Lehrpunkt.  Die  Scheidung  zwischen 
niedern  und  höhern  Erkenntnisfähigkeiten  ist  darum  auch 
nicht  so  scharf  wie  bei  den  Aristotelikern  durchgeführt,  nach 
denen  der  Sinnesakt  in  seinem  innersten  Sein  durch  die 
ausgedehnte  Materie  als  Teilprinzip  bestimmt  ist,  während 
Olivi  im  Sinn  der  modernen  Psychologie  alle  bewußten  Akte 
als  einfach  betrachtet.  Wenn  er  nämlich  auch  des  öftern 
die  Augustinische  Erklärung  des  sinnlichen  Erkenn ens,  daß 
dieses  ein  Aufmerken  der  Seele  auf  die  durch  den  äußern 
Eindruck  im  Körper  verursachte  Veränderung  ist  ^),  bekämpft 
—  besonders  im  fünften  Teil  der  Frage  74  — ,  so  betrachtet  er 
doch  im  Anschluß  an  Augustin  die  einfache,  unausgedehnte 
Seele  als  das  eigentliche  Principium  eliciens  der  Sinnes- 
empfindung,   sowohl  bei  Menschen  als  Tieren. 

Um  so  nachdrücklicher  betont  er  die  Geistigkeit  des 
höheren  Erkenntnisprinzips  (Frage  67);  seine  Auffassung, 
daß    die  Pars    intellectiva   nicht    die  Form  des  Körpers  ist, 

1)  Vgl.  De  muBica,  VI  5,  n.  9,  10;  De  quantitate  animae,  cap.  24. 


Die  Grundlinien  seiner  Psychologie  35 

erleichtert  ihm  natürlich  die  Beweisführung.  Folgerichtig 
zu  dieser  —  freilich  irrtümlichen  —  Annahme  sind  ihm  der 
menschliche  Geist  und  seine  Fähigkeiten  von  der  gleichen 
spezifischen  Natur  wie  die  der  Engel  (Frage  56) ;  eine  These, 
die  wieder  in  scharfem  Gegensatz  zu  Thomas  ^)  steht.  Die 
Beweise  für  die  Unsterblichkeit  der  Seele  (Frage  52)  gehören 
zu  den  besten  diesbezüglichen  Ausführungen  in  der  philo- 
sophischen Literatur. 

Eigenartig  ist  wiederum  Uli  vis  Lehre  von  dem  Verhältnis 
der  Seelenkräfte  zur  Seelensubstanz  (Frage  51).  Bekannt- 
lich war  dieses  Problem  stark  in  die  Kontroversliteratur*) 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  hineingezogen  worden :  Augu- 
stinus^) und  manche  seiner  Anhänger  in  der  Früh-,  Hoch- 
und  Spätscholastik,  hier  vor  allem  die  Nominalisten,  ver- 
teidigten die  Identität  beider;  umgekehrt  traten  Aristoteles, 
Thomas  und  ihre  Schüler  entsprechend  ihren  metaphysisch- 
psychologischen Prinzipien  für  die  sachliche  Unterschei- 
dung ein*).     Olivi  nimmt  eine  Mittelstellung  ein^),  die  mehr 


i)  S.  th.,  q.  50  a.  4;  q.  75  a  7;  De  ente  et  essentia,  cap.  5,  9. 

2)  Oorrectorium,  art.  1  f.  53 r.;  vgl.  die  Bonaventura- Ausgabe 
(Quaracchi).  Scholion  I  85,  87. 

3)  De  Trin.,  IX,  4,  5.  10,  12;  X  11  ;  Rieh.  v.  Mediavilla  lehrt 
augustinisch,  Sent.,  I  dist.  3  quaest.  1,  vgl.  Minges,  Skotistisches  bei 
R.  V.  M.,  S.  71  f;  auch  Wilh.  v.  Auvergne  (De  anima,  III  2  p.  88  (1) ; 
III  6  p.  92  (1))  —  vgl.  Baumgartner,  Die  Erkenntnislehre  des  Wilh. 
V.  Auvergne,  S.  15  ff.  —  und  Heinrich  v.  Gent  (Quodlib.,  III  q.  14)  — 
vgl.  Stöckl,  2.  Bd.  S.  753  f.  —  verteidigten  die  Identität;  über  die 
Nominalisten  siehe  Suarez,  De  anima,  lib.  II  cap.  1   n.  2. 

4)  Aristoteles,  De  anima,  II  2,  3,  413  a  30  sqq. ;  III  4,  5,  429  a 
10  sqq.;  Eth.,  VI  2,  1139  a  3  sqq. ;  Thomas,  Sent.,  I  d.  III  q.  4  a.  2; 
S.  th.,  I  q.  54  a.  3;  q.  77  a.  1,  3;  De  spir.  creat.,  a.  11 ;  Alb.  M..  S.  th. 
I.  t.  3  q.  15  a.  2  suba.  3  quaesit.  1  ;  S.  th.,  II  t.  12  q.  72  m.  4  a.  3; 
Sent.,  I  d.  3  a.  34. 

5)  Bemerkenswert  ist,  daß  die  Pranziskanerschule  einen  andern 
Mittelweg  einschlug.  „Pecham  beantwortet  die  Erage  mit  seiner 
Unterscheidung  der  potentiae  und  vires  dahin,  daß  die  Vermögen  auf 
die  Kategorie  der  Substanz,  die  Kräfte  auf  die  Kategorie  der  Akzi- 
denz aurückzuführen  seien.  Auf  die  zweite  Frage  bezüglich  des  Un- 
terschiedes der  Potenzen  von  ihrer  Substanz  antw^ortet  Pecham,  daß 
nur  in  Grott  Potenz  und  Substanz  identisch  seien  .  .  .  Einmal  ist  er 
gegen    die    frühscholastische    auf  Augustin   eich  berufende  Leugnung 


36  4.  Kapitel 

zu  ersteren  als  zu  letzteren  hinneigt.  Insofern  jedoch  sind 
die  Kräfte  von  der  Substanz  verschieden,  als  sie  erst  in 
ihrer  Gesamtheit  deren  Wesen  ausmachen:  potentiae  sunt 
partes  constitutivae  animae  et  differunt  ab  ea  sicut  partes 
a  toto  et  sunt  idem  cum  ea  sicut  partes  cum  toto. 

Eine  aus  diesem  Verhältnis  sich  ergebende  Folgerung 
ist,  daß,  wie  oft  erwähnt  wird,  jede  Fähigkeit  ihre  Form 
und  Materie  hat,  genau  wie  die  Substanz  selbst ;  die  Materie 
hat  als  passives  Prinzip  die  Tätigkeiten  aufzunehmen,  welche 
die  Form  als  aktives  hervorbringt.  Statt  vieler  Stellen  ge- 
nüge eine:  materia  potentiae  volitivae,  prout  subest  formae 
talis  potentiae,  non  est  capax  habituum  et  actuum  potentiae 
cognitivae  nee  e  contrario,  quia  nee  habitus  et  actus  voli- 
tivi  possunt  recipi  in  materia  potentiae  volitivae,  nisi  prout 
est  informata  sua  forma  spirituali,  per  quam  est  volitiva. 
Dabei  hat  nattlrlich  die  Form  die  Priorität  vor  der  Materie : 
actus  cognitivi  et  eins  habitus  prius  cohaerent  formae  sub- 
stantiali  animae  et  potentiae  cognitivae  quam  suae  materiae; 
nam  non  possunt  recipi  in  materia  et  praecipue  in  corpo- 
rali  nisi  per  praeviam  et  intermediam  formam  animae  et 
suae  potentiae  (Frage  72,  Lösung  der  11.  Objektion).  Inso- 
fern ist  sogar  der  totalen  Aktivität  des  Willens,  die  Olivi 
kaum  zu  stark  betonen  zu  können  glaubt,  ein  passives  Ele- 
ment beigemischt,  als  sie  die  Akte  in  sich  aufnehmen  muß 
(Anfang  von  Frage  58).  Aus  dem  nämlichen  Grunde,  so 
wird  in  der  Lösung  der  13.  Supprobatio  der  14.  Objektion 
in  Frage  58  ausgeführt,  brauchen  die  sinnlichen  Fähigkeiten 
der  Tiere  trotz  ihrer  Einfachheit  körperlich  ausgedehnte 
Organe:  quia  hi  actus  in  potentiis  organis  unitis  sunt,  id- 
circo  et  ipsi  actus  in  organis  sunt:  Organa  materia  sunt  ip- 
sarum  potentiarum  tamquam  suarum  formarum,  actus  autem 

des  reellen  Unterschiedes,  sodann  bestreitet  er  gegen  die  „thomistische" 
Lösung,  daß  es  sich  bei  «len  Potenzen  nur  um  Akzidentien  handle  .  .  . 
Mit  dieser  Lösung  betritt  Pecham  den  gleichen  Mittelweg,  wie  er 
damals  in  seiner  Ordensschule  von  Alexander  Haies  bis  zu  Duns 
Scotus  beliebt  war."  (Spettmann,  Die  Psychologie  Pechams,  S.  64 ff., 
vgl.  den  dortigen  Literaturnachweis);  Alex.  v.  Haies,  S.  th.,  II  q.  65 
TQ.  1.  q.  21  m.  1;  Bonav.,  Sent.  II  d.  24,  1  a.  2  q.  1;  Duns  Scotus, 
Sent.,  II  d.   16  q.  unica. 


Die  Grundlinien  seiner  Psychologie  37 

potentiarum  recipiuntur  aliquo  modo  in  materiis  earum. 
Beim  Menschen  scheint  dieser  Grund  wegzufallen:  in  ho- 
minibus  vero  est  aliter,  quia  ipsae  potentiae  habent  dupli- 
cem  materiam,  spiritualem  scilicet  et  corporalem;  et  ideo 
sicut  ipsae  principalius  existunt  in  sua  materia  spirituali  et 
secundario  in  materia  corporali,  sie  et  ipsi  actus  et  species 
principalius  existunt  in  materia  spirituali,  secundario  vero 
in  corporali  (A.  a,  0.). 

Weiterhin  zieht  sich  durch  Olivis  gesamte  Psychologie 
der  Seelenkräfte,  der  des  Erkennens  sowohl  als  der  des 
Strebens,  die  Grundanschauung  hindurch,  daß  sie  insofern 
vollständig  aktiv  sind,  als  sie  die  volle  Wirkursache  ihrer 
Akte  sind,  obschon  sie  des  Objektes  als  Terminus  oder  Causa 
terminativa  oder,  schärfer  ausgedrückt,  als  Occasio  —  wie 
es  gelegentlich  heißt  —  bedürfen.  Mit  großer  Entschieden- 
heit wird  die  Aristotelisch-thomistische  Lehre  von  der  teil- 
weisen Passivität  der  Seelenkräfte  —  natürlich  abgesehen 
von  der  vorhin  gemachten  Einschränkung  —  und  des  Kau- 
saleinflusses oder  der  Einwirkung  des  Objektes  bekämpft. 
In  geschickter,  selbständiger  Weise,  wie  es  die  Art  Olivis 
ist,  werden  dabei  Augustinische  Motive,  die  gerade  das  Mo- 
ment der  Selbstbetätigung  stark  hervorheben,  mit  großer 
Energie  und  einer  gewissen  Einseitigkeit  weiter  geführt. 

Ganz  und  gar  wandelt  Olivi  in  den  Bahnen  Augustins, 
wie  er  ausdrücklich  hervorhebt,  in  der  Psychologie  der  nie- 
deren Seelenkräfte  1).  Er  kennt  neben  den  fünf  äußeren 
bloß  noch  einen  inneren  Sinn  (Frage  60 — 66)  2).  Bezüglich 
des  Tastsinnes  wirft  er  bereits  die  Frage  auf,  ob  es  einer 
oder  mehrere  sei  und  entscheidet  sich  für  die  Einheit.  Der 
eine  innere  Sinn  hat  folgende  Funktionen :  als  Sensus  com- 
munis sammelt  er  die  verschiedenen  Eindrücke  der  äußeren 
Sinne  und  bezieht  sie  auf  einen  Gegenstand ;  als  Imaginatio 
stellt  er  sich  die  absentes  formas  sensibilium  vor;  als 
Potentia  aestimativa,  die  eine  Art  sinnlicher  Urteilsvermögen 


1)  Olivi  zitiert  De  gen.  ad.lit.,  XII  20,  23,  24;  De  Triu.,  XI  2— 6^ 
7,  8;  XY  4. 

2)  Von  den  vielen  spätem  Denkern,  die  dieselbe  Ansicht  halten^ 
sei  hier  bloß  Suarez  genannt  (De  anima,  lib.  III  cap.  30). 


38  4.  Kapitel 

ist,  unterscheidet  er  zwischen  Nützlichem  und  Schädlichem; 
als  Memoria  sensitiva  endlich  speichert  er  die  sinnlichen 
Bilder  auf.  Man  sieht,  die  Funktionen  werden  so  gefaßt 
wie  es  bei  den  Arabern  und  den  von  ihnen  abhängigen 
christlichen  Scholastikern  der  Fall  war^).  Im  Anschluß  an 
Augustin^)  und  die  Araber^)  berichtet  Olivi  auch  über  die 
Lokalisierung  der  inneren  Sinne  (q.  65),  ohne  eine  persön- 
liche Stellung  zu  nehmen.  In  bezug  auf  das  Organ  des 
inneren  Sinnes  verbindet  er  die  Platonische  mit  der  Aristo- 
telischen Ansicht  (q.  62)  ^),  wie  es  bereits  Avicenna  und  Aver- 
roes  getan  hatten,  denen  später  Albert  d.  Gr.  und  Roger 
Bacon  folgten^).  Daß  das  Herz  prior  et  fundamentalior  radix 
sensuum  internorum  sei,  beweist  zunächst  sein  Einfluß  auf 
alle  Glieder  des  Körpers,  sodann  die  innere  Erfahrung,  die 
uns  berichtet,  daß  der  Verlauf  der  Lebensvorgänge  durch 
das  Herz  bedingt  ist,  endlich  sein  Verhältnis  zum  Gehirn, 
das  von  ihm  belebt  und  ernährt  wird.  Anderseits  aber  ist 
das  Gehirn  die  notwendige  Ergänzung  des  Herzens,  beide 
zusammen  machen  das  Organ  der  Empfindung  aus.  Diese 
beherrschende  Stellung  des  Gehirns  ergibt  sich  daraus, 
daß  alle  Sinnesnerven  von  ihm  ausgehen,  ferner  aus  der 
Tatsache,  daß  eine  Störung  desselben  die  Akte  aller 
Sinne    beeinträchtigt.     Die    Nerven    werden     entsprechend 


1)  Vgl.  Horten,  Das  Buch  der  Bingsteine  Färäbis,  wo  die  Einteilung 
der  inneren  Sinne  bei  Atfäräbi,  Ayerroes,  Avicenna  und  Thomas  an- 
gegeben wird,  z.  B.  S.  218  ff.,  236  f. 

2)  Es  wird  De  gen.  ad.  lit.,  YII  17,  18  zitiert. 

3)  Vgl.  Horten,  das  Buch  der  Ringsteine  Färäbis,  S.  220 ff.; 
Baumgartner,  Die  Erkenntnislehre  des  Wilhelm  v.  Auvergne,  S.  26; 
Endres,  in  Philos.  Jahrbuch,  IX.  Bd.  (1899)  S.  191  f.;  Schneider,  Die 
Psychologie  Alberts  d.  Grr.,  S.  178ff. ;  Thomas,  De  verit.,  q.  10  a.  5; 
q.  15  a.  1;  Sent.,  I  d.  3.  q.  4  a.  1  ad  1 ;  Sent.,  IV  d.  7.  q.  3  a.3.:  Sent., 
IV  d.  50  q.  1.  a.  1  ad  3. 

4)  Vgl.  Barach,  Excerpta  e  libro  Alfredi  Anglici  de  motu  cordis, 
Innsbruck  1878,  wo  ein  geschichtlicher  Überblick  tlber  die  Vertreter 
beider  Ansichten  gegeben  wird  ;  Siebeck  (Geschichte  der  Psychologie) 
stellt  ebenfalls  wiederholt  die  Anhänger  der  Platonischen  und  Ari- 
stotelischen Auffassung  zusammen;  desgleichen  Schneider,  Die  Psycho- 
logie Alberts  des  Gr.,  S.  173  ff. 

5)  Vgl.  Schneider,  8.  176  f. 


Die  Grundlinien  seiner  Psychologie  39 

den  Anschauungen  der  Physiologie,  wie  sie  im  Mittelalter 
und  noch  lange  in  der  Neuzeit  herrschend  waren  —  man 
denke  nur  an  Descartes  — ,  als  Hohlröhren  angesehen,  in 
denen  sich  die  aus  dem  Blut  gewonnenen  Spiritus  animales 
als  Vermittler  der  Empfindung  bewegen. 

Die  Seele  informiert  unmittelbar  alle  Teile  des  Körpers 
(Frage  49).  In  ihrer  Gesamtheit  —  also  nicht  bloß  die  Pars  intel- 
lectiva,  sondern  auch  die  Pars  sensitiva  —  entsteht  sie  durch 
einen  Schöpfungsaktund  nicht  durch  Zeugung  seitens  der  Eltern 
(Frage  51).  Über  die  Pars  vegetativa,  die  freilich  von  beiden 
verschieden  ist,  schweigt  sich  der  Verfasser  aus,  aber  durch 
Analogieschluß  darf  man  als  wahrscheinlich  folgern,  daß  von 
ihr  dasselbe  gilt.  Man  sieht,  trotz  der  krausen  lüformations- 
theorie  liegt  Olivi  doch  viel  daran,  die  strenge  Einheit  des 
Menschen,    so  vergeblich   das  Bemühen  auch  ist,   zu  retten. 

Mit  Augustinus^)  betont  er  häufig  die  Bedeutung  des 
Gedächtnisses,  so  namentlich  im  ersten  Teil  der  Frage  74. 
Die  Species  memorialis  vertritt  das  abwesende  Objekt,  hat 
also  die  Aufgabe,  als  Terminus  extrinsecus  aspectus  et 
actus  cognitivi  zu  dienen,  nicht  aber,  ut  informet  aciem 
potentiae,  ut  sie  per  talem  formam  influat  et  producat  actum 
cognitivum;  mit  anderen  Worten,  sie  ist  nicht  Formal-  oder 
Wirkursache  des  Erkenntnisaktes,  sondern  der  Gegenstand, 
auf  den  er  sich  richtet.  Das  Gedächtnis  geht  zunächst  auf 
die  früheren  Akte  als  psychisches  Erlebnis  und  erst  mittelbar 
auf  deren  Gegenstand.  Nachdrücklich  wird,  z.  B.  im  ersten 
Teil  der  Frage  74,  neben  dem  sinnlichen  Gedächtnis  das 
Vorhandensein  eines  geistigen  hervorgehoben  und  nachge- 
wiesen. Häafig  finden  sich  Berufungen  auf  Augustins^)  be- 
rühmte beide  Dreieinigkeiten  (Trinitates)  im  niederen  und 
höheren  Erkenntnisvorgang. 

Die  Beziehung,  in  der  Gedächtnis  und  Verstand  zu 
einander  stehen,  wird  in  Frage  58,  Lösung  der  4.  Supprobatio 
der  14.  Objektion,  so  dargestellt:  memoria,  licet  dicat  ma- 
teriam  ipsius  intellectus,  prout  est  apta  ad  suscipiendum  in 
se  quasdam  similitudines  intellectuales,  non  tamen  dicit  ma- 

1)  Confesß.,  X  8—25;  De  Trin.,  IX  3,  4;  Buch  IX— XIV. 

2)  De  Trin.,  XI  1—5. 


40  4.  Kapitel 

teriam  eins,  prout  cum  forma  operativa  intellectus  constituit 
nnam  potentiam  operativam.  Es  ist  rein  passiv:  non  ipsa 
producit  species  suas  in  se  ipsa,  sed  potius  producuntur  in 
ea  per  actum  ipsius  intellectus;  unde  et  sine  actu  intelli- 
gendi  in  ea  generari  non  possunt;  subito  tamen  ad  actualem 
apprehensionem  intellectus  sequitur  retentio  speciei  in  me- 
moria et  ad  frequentationem  ipsius  actus  magis  ac  magis 
firmatur  species  in  ipso,  sicut  et  per  actualem  applicationem 
et  impressionem  cerae  ad  sigillum  generatur  in  cera  quaedam 
figura  et  forma,  permanens  post  ipsam  actualem  applicatio- 
nem ipsius  cerae.  —  Vom  sinnlichen  Gedächtnis  heißt  es: 
ad  actum  sensus  communis  in  memoria  fit  species  quasi 
de  potentia  eins,  ut  sie  secundum  Augustinum,  De  Trinitate 
(X  5),  fiant  in  ipsa  et  de  ipsa ;  et  ideo  possunt  remanere  in 
ea  post  absentiam  actuum  sensus  communis. 


5.  Ka  pi  t  e  1. 

Der  Begriff  der  Erkenntnis  und  der  Wahrheit 

Eine  systematisch  geschlossene  Erkenntnistheorie  dürfen 
wir  bei  Olivi  nicht  erwarten.  Weder  die  griechische  noch 
die  patristische  und  mittelalterliche  Philosophie  ergehen  sich 
im  Geiste  eines  Descartes  und  Kant  in  eindringenden  kriti- 
schen Problemstellungen  über  Möglichkeit,  Bedingungen  und 
Grenzen  der  Erkenntnis.  Trotzdem  läßt  sich  aus  der  Ge- 
samtphilosophie der  scholastischen  Denker  eine  eindeutige 
Theorie  über  die  Natur  und  den  Geltungswert  des  Erken- 
nens  zusammenfassen,  wenn  sie  auch  nur  gelegentlich  kri- 
tische Grenzbestimmungen  machen  und  nur  dann  und  wann 
Bemerkungen  über  den  subjektiven  Anteil  an  der  Bildung 
der  Vorstellungen  und  Begriffe  einstreuen,  wie  vor  allem 
aus  dem  lebhaften  Universalienstreit  erhellt^).  Diese  er- 
kenntnistheoretischen Untersuchungen  treten  bei  den  Nomi- 
nalisten stärker  in  den  Vordergrund^). 

Innerhalb  dieses  bescheidenen  erkenntniskritischen  Rah- 
mens seiner  Zeit  verbreitet  sich  Olivi  ziemlich  ausführlich 
über  das  Wesen  und  den  Geltungswert  des  Erkennens. 
Neben    ganz   unkritischen  Anschauungen    bringt  er  Ausfüh- 

1)  Gleyser,  Die  Erkenntnistheorie  des  Aristoteles.;  Kleutgen, 
Die  Philosophie  der  Vorzeit,  1.  Band;  Fischer,  Die  Erkenntnislehre 
Anselms ;  Baumgartner,  Die  Erkenntnislehre  des  Wilh.  v.  Auvergne ; 
Rousselot  Pierre,  L'intellectualisme  de  S.  Thomas,  Paris  1908;  Die  ge- 
nannten Thomas- Artikel  von  Baumgartner,  in  der  v.  Hertling-  u.  Baeum- 
ker-Festschrift ;  Thomas,  S.theoL,  q.  16, 17;  De  verit.,  q.  1;  Grabmann, 
Die  Erkenntnislehre  des  Kard.  M.  v.  Aquasparta;  Baur,  Die  Philo- 
sophie des  Grosseteste  ;  Spettmann,  J.  Pecham  Quaestiones ;  Baeumker, 
Witelo. 

2)  Dreiling,  Der  Konzeptualismus  des  Aureolus;  Kugler,  Der  Be- 
griff der  Erkenntnis  bei  Ockham ;  besonders  Lappe,  Nicolaus  von 
Autrecourt. 


42  5.  Kapitel 

rungen,  die  durchaus  neuzeitlich  klingen  und  lebhaft  an  Ge- 
dankengänge unserer  Zeit  erinnern. 

Einen  durchaus  naiven  Standpunkt^)  vertritt  der  Yer- 
fasser,  wenn  er  ausführt,  daß  außer  der  Gegenwart  des  Ob- 
jektes —  ein  Begriff,  der  nicht  geklärt  wird  und  darum 
dunkel  bleibt  —  nichts  weiter  als  ein  Sichhinwenden,  als  der 
Aspectus  der  Erkenntnisfähigkeit  zum  Gegenstand  nötig  ist. 
So  werden  im  4.  Teil  der  72.  Frage  die  Gegenwart  des  Ob- 
jektes und  das  Sichhinwenden  zu  ihm  in  engste  Beziehung 
gesetzt:  obiectum  est  praesens  potentiae,  quando  potentia 
habet  aspectum  praesentialiter  conversum  super  ipsum.  Es 
ist  wie  ein  unmittelbares  Erfassen  und  geistiges  Betasten 
des  Gegenstandes,  ein  Durchtränktwerden  der  Erkenntnis- 
kraft mit  demselben.  Das  tiefere  Problem,  ob  und  wie 
das  möglich  ist,  kommt  Olivi  noch  nicht  zum  Bewußtsein: 
sola  potentia  erit  totale  principium  actus;  principio  effec- 
tivo  totali  praesente  cum  patiente  et  obiecto  semper  poterit 
sequi  actus  ;  obiectum  autem  tunc  est  praesens  potentiae, 
quando  potentia  habet  aspectum  praesentialiter  conversum 
super  ipsum  .  .  .;  absque  specie  poterit  obiectum  esse  prae- 
sens potentiae  (Frage  58,  der  3.  Punkt  in  der  Lösung  der 
13.    Objektion)*).     Ähnlich  im  4.  Teil  der  72.  Frage:    actus 


1)  Vgl.  Ed.  V.  Hartraann,  Das  Grundproblem  der  Erkenntnistheorie, 
Leipzig  1889. 

2)  Ähnliche  Auffassungen  finden  sich  bei  den  Nominalisten  des 
14.  Jahrhunderts.  Ohne  näher  auf  die  beiden  bedeutendsten  Vor- 
läufer Aureolus  und  Durandus  einzugehen,  möge  vor  allem  Occam, 
der  eigentliche  wissenschaftliche  Theoretiker  des  ^^Tominalismus,  an- 
geführt werden:  quandocunque  aliqua  potentia  est  perfecta  disposita 
ad  aliquem  actum  —  und  das  ist  sie  ohne  vorausgehende  Species, 
worum  es  sich  an  dieser  Stelle  eigentlich  handelt  —  et  obiectum  se- 
cundum  se  totum  et  quamlibet  partem  est  perfecte  praesens,  tunc 
potest  sequi  actus  et  distincte  apprehendi  illud  obiectum  sine  omni 
notitia  praevia  —  d.  h.  ohne  weitere  Vermittlung,  namentlich  ohne 
weitere  Entitäten.  —  Hoc  patet,  quia  non  minoris  perfeclionis  est  in- 
tellectus  dispositus  et  non  impeditus,  et  maxime  intellectus  angelicus, 
quam  visus  vel  quaecunque  potentia  visiva.  Sed  potentia  visiva,  si 
obiectum  suum  sit  convenienter  praesens  et  potentia  sit  sufficienter 
disposita,  statim  distincte  apprehendit  illud  obiectnm  (Sent.,  I  dist.  27 
quaest.  2  E). 


Der  Begriff  der  Erkenntnis  und  der  Wahrheit  43 

et  aspectus  cognitivus  habet  obiectum  intra  se  irabibitum  .  .  ., 
vis  cognitiva  generat  actum  eognitivum  cum  quadam  infor- 
mativa  imbibitione  actus  ad  obiectum  et  cum  quadam  vi- 
scerali  tentione  obiecti. 

Diese  ganze  Ilnwissenschaftlichkeit  tritt  noch  deutlicher 
in  Frage  73,  speziell  in  bezug  auf  die  Sinneserkenntnis, 
zu  Tage.  Ohne  irgendwelche  Einwirkung  des  äußeren  Ge- 
genstandes, etwa  durch  Yermittlung  von  Eindrücken  oder 
Species,  kann  der  Sinn  weit  entfernte  Gegenstände  erkennen. 
Es  wird  dieser  Vorgang  als  eine  virtualis  actio,  als  ein  vir- 
tualiter  attingere,  als  ein  agere  potentiae,  ubi  secundum  suam 
essentiam  non  est,  beschrieben. 

Um  so  bedeutsamer  und  moderner  ist  der  zweite  Ge- 
sichtspunkt, unter  dem  Olivi  das  Erkennen  betrachtet. 
Es  ist  ihm  ein  intentionales  Ergreifen  des  Gegenstandes. 
Die  logische  Wahrheit  ist  eine  Aussage  über  die  ontologische 
Wahrheit,  welch  letztere  scharf  von  jener  geschieden  wird 
und  sich  stufenförmig  in  verschiedenen  Seinsordnungen  auf- 
baut. Sind  diese  Gedanken  Gemeingut  der  Scholastiker^), 
80  dürfte  die  Auffassung  des  Erkennens  als  eines  Meinens, 
Bezeichnens  von  etwas,  eines  Geltens,  eines  Hinweisens 
und  Sichbeziehens  auf  einen  Sachverhalt  aus  dem  Vorstel- 
lungskreis der  damaligen  Zeit  herausfallen  und  teilweise 
die  Anschauungsweise  der  Modernen,  eines  Lotze  ^),  Husserl, 
Geyser,  wiedergeben.  Dasselbe  gilt  von  der  Beschreibung 
des  Erkennens  als  eines  Erfülltseins  und  Gesättigtseins  der 

1)  Hier  wirken  Platonisch-aristotelisch-augustinische  Motire  nach, 
ohne  daß  sich  Olivi  dafür  auf  die  genannten  Autoren  eigens  zu  be- 
rufen brauchte.  ISTur  einmal  in  der  11.  Objektion  der  14.  Quaestio 
bringt  er  die  Definition  Augustins :  „veritas  est  id,  quod  est"  (Soliloq., 
II  5).  Vgl.  Kleutgen,  Die  Philosophie  der  Vorzeit,  1 .  Bd.  S.  23  ff. ; 
Fischer,  Die  Erkenntnislehre  Anselms,  S.  50ff. ;  bekanntlich  hält  An- 
selm  getreu  an  Augustin  fest;  Baumgartner,  Die  Erkenntnislehre 
des  Wilhelm  von  Auvergne,  S.  28;  derselbe,  Zum  thomistischen 
Wahrheitsbegriff;  Pecham,  Quaest.  40 — 42;  Grabmann,  Aquasparta, 
8.  36  ff. 

2)  System  der  Philosophie,!.  Teil  Logik,  2.  Aufl.,  Leipzig  1881; 
vgl.  KuBserl  u.  Geyser;  Arthur  Liebert,  Das  Problem  der  Geltung, 
2.  Aufl.,  Leipzig  1920;  Martin  Honecker,  Gegenstandslogik  und  Denk- 
logik, Berlin  1921. 


44  5.  Kapitel 

Intention  oder  Inklination  der  Erkenntniskraft  durch  da» 
Objekt. 

Dieses  Aussagen,  Bezeichnen  und  Meinen  vollzieht  sich 
im  Urteil,  in  der  Verbindung  von  Subjekt  und  Prädikat. 
Leider  wird  das  Wesen  des  Urteils  nicht  näher  bestimmt. 
Darf  man  indes  die  spärlichen  Andeutungen  aus  dem  Ge- 
samtgeist der  Ausführungen  Olivis  deuten,  so  müßte  man  etwa 
so  sagen :  im  Subjektivbegriff  erfaßt  der  Verstand  das  Ob- 
jekt im  allgemeinen  und  hebt  sodann  im  Prädikatsbegriff 
eine  bestimmte  Note  aus  dem  Totalkomplex  der  wesent- 
lichen und  zufälligen  Eigenschaften  desselben  heraus  und 
bejaht  dieselbe  in  der  Ilrteilsverbindung  von  dem  in  Frage 
stehenden  Gegenstand;  wie  also  Subjekt  und  Prädikat  lo- 
gisch verbunden  sind,  so  fällt  die  ins  Auge  gefaßte  Einzel- 
note sachlich  mit  dem  Gesamtding  zusammen  oder  gehört 
ihm  doch  an. 

Weiterhin  wird  mehrmals  die  Wahrheit  der  sprachlichen 
Aussage  oder  der  Propositio  von  der  Wahrheit  der  rein  in- 
neren Zustimmung  unterschieden,  erstere  ist  der  Ausdruck 
dieser  letzteren^). 

Wahr  ist  die  Erkenntnis,  die  mit  ihrem  Gegenstand 
übereinstimmt;  die  bekannte  Gleichung,  die  Thomas  von 
Isaak  Israeli 2)  herttbergenommen  hat:  veritas  est  adaequatio 
intellectus  cum  re,  findet  sich  wohl  sachlich,  aber  nicht  for- 
mell' bei  Olivi.  Jeglicher  Psychologismus  ist  bei  ihm  von 
vornherein  ausgeschlossen.  Er  unterscheidet  noch  nicht, 
obgleich  eine  oberflächliche  Betrachtung  mancher  Wendungen 
das  nahezulegen  scheint,  den  psychologischen  Vorgang 
der  Wahrheitsaneignung  oder  den  Akt  des  Urteilens  vom 
Inhalt  oder  Urteil.  Der  Gegenstand  des  Erkennens  ist 
entweder  ein  einzelnes  Objekt,  mag  es  der  sinnlichen 
oder  übersinnlichen  Ordnung  angehören,  und  wird  direkt  in 
sich    erkannt,    oder    die    Welt    der  allgemeinen,    „idealen* 


1)  Vgl.  die  verwandten  Ausführungen  Aneelms,  De  veritate,  cap. 
2;  Fischer,  S.  50  ff. 

2)  S.  th.,  I  q.  16  a.  2;  vgl.  Guttmann,  Die  philosophischen  Lehren 
des  Isaak  benSalomon  Israeli;  bei  Pecham  findet  sich  diese  Definition 
wiederholt  (ed.  Spettraann,  p.  217  sqq.)- 


Der  Begriff  der  Erkenntnis  und  der  Wahrheit  45 

Wesenheiten,  die  keine  physische  Existenz,  sondern  eine 
metaphysische  Wirklichkeit  besitzen  —  wie  ja  auch  das  All- 
gemeine im  Sinn  des  gemäßigten  Realismus  nur  im  Einzelnen 
seinem  Inhalt  nach  verwirklicht  ist  (Frage  13)  — ,  oder  letzt- 
lich das  Absolute.  Dieses  ist  der  tiefste  Grund  und  Urquell 
(Causa)  aller  Seins-  und  Erkenntnisgesetze  ^).  Ganz  im  Ein- 
klang mit  Aristoteles  ^)  behauptet  Olivi,  daß  die  Ordnungen 
des  Seins  und  menschlichen  Erkennens  im  umgekehrten 
Verhältnis  zu  einander  stehen:  weder  Gott  noch  die  allge- 
meinen Wesenheiten  schauen  wir  in  sich,  sondern  gelangen 
erst  durch  vielfache  Bearbeitung  des  Inhaltes  der  Erfahrung 
zu  ihrer  Kenntnis. 

Der  Irrtum  kann  einen  doppelten  Grund  haben;  ent- 
weder ist  er  durch  die  mangelnde  Klarheit  des  Objektes 
oder  durch  den  Einfluß  des  Willens  hervorgerufen:  falsitas 
aliquando  provenit  ex  pravo  affectu  intellectum  et  eins  iu- 
dicium  distorquente  seu  tortuose  deducente,  aliquando  ex 
defectu  intellectus  nequeuntis  verilatem  obiecti  discernere. 
Ganz  allgemein  wird  die  Einwirkung  des  Strebevermögens 
auf  das  Erkennen  im  1.  Teil  der  Frage  74  ausgesprochen: 
acumen  et  claritas  per  pravos  affectus  et  per  nimis  mate- 
rialem  adhaesionem  ad  imaginationem  et  sensum  potest 
valde  obfuscari  et  detorqueri  absque  minutione  substantiae 
suae  et  e  contra  per  sanctos  affectus  et  gustus  habitualiter 
clarificari  et  acui  et  dilatari. 

Wir  haben  im  Vorstehenden  einen  gedrängten  Über- 
blick über  den  Aufbau  des  Erkenntnis-  und  Wahrheitsbe- 
griffs gegeben,  ohne  das  Gesagte  mit  Olivis  eigenen  Worten 
zu  belegen,  um  die  Übersicht  nicht  zu  erschweren.  Lassen 
wir  ihn  nunmehr  selbst  zu  Wort  kommen. 

Das  Erkennen  ist  zunächst  das  Darstellen  eines  Sach- 
verhaltes: orationem  oportet  conformari  rei  seu  significato 
suo  ad  hoc,  quod  sit  vera  (Lösung  der  25.  Objektion  in  der 


1)  Augustinus,  De  vera  relig.,  cap.  31  n.  11;  De  Trin.,  VIII  2  n.  3; 
XIV  15  n,  21  ;  De  lib.  arb.,  II  9  n.  26;  vgl.  Fischer,  Die  Erkenntnis- 
lehre Anselms,  S.  58ff. ;  Thomas,  S.  th.,  1  q.  16  a.  5 — 8;  De  verit.,  q. 
1.  a.  4-6,  8. 

2)  Anal,  post.,  I  2,  3. 


46  5.  Kapitel 

ersten  Borghese-Frage).  Ferner  die  eindrucksvolle  Stelle 
im  4.  Teil  der  72.  Frage :  obiectum  habet  rationem  confi- 
gurativi  et  repraesentativi  seu  cognitivi,  nam  actus  et 
aspectus  cognitivus  figitur  in  obiecto  et  intentionaliter  habet 
ipsum  intra  se  imbibitum.  Propter  quod  actus  cognitivus 
vocatur  apprehensiva  tentio  obiecti,  in  qua  quidem  tentione 
et  imbibitione  actus  intime  conformatur  et  configuratur  ob- 
iecto. Ipsum  etiam  obiectum  se  ipsum  repraesentat  aspectui 
cognitivo  et  per  actum  sibi  configuratum  est  quaedam  re- 
praesentatio  eins  .  .  .  Vis  cognitiva  fit  ipsa  similitudo  obiecti 
et  sigillaris  expressio  obiecti  .  .  .  Ex  hoc,  quod  actio  cogni- 
tiva est  talis  obiecti,  habet,  quod  sit  eins  expressiva  visio 
et  simillima  imago.  Im  1.  Praenotamentum  der  72.  Frage 
heißt  es  :  agens  agit  intra  se,  dirigendo  vim  suam  in  obiec- 
tum extrinsecum  et  etiam  eo  ipso  aperiendo  et  applicando 
suam  potentiam  passivam  ad  ipsum  obiectum,  acsi  deberet 
obiectum  intra  se  capere. 

Der  Unterschied  zwischen  dem  Denkinhalt  und  dem 
Sachverhalt  und  zugleich  die  innige  Beziehung  zwischen 
beiden  bringt  die  Lösung  der  genannten  25.  Objektion  im 
Borghese-Kodex  klar  zum  Ausdruck :  veritas  orationis  sim- 
pliciter  et  proprio  non  causatur  a  veritate  rei,  quia  res  non 
est  causa  effectiva  alicuius  substantialis  vel  accidentalis, 
quod  sit  in  oratione,  cum  frequenter  loquamur  de  rebus 
absehtibus  et  de  non  existentibus.  Pro  tanto  tamen  potest 
dici  causa,  quia  oportet  orationem  conformari  rei  seu  signi- 
ficato  suo  ad  hoc,  quod  sit  vera.  Et  hoc  est,  quod  dicitur 
ab  eo,  quod  res  est  vel  non  est  ^).  Quod  autem  dicitur,  quod 
ad  solam  mutationem  rei  oratio  mutatur  de  veritate  in  fal- 
sitatem  et  e  contrario,  non  est  intelligendum,  quod  hoc  fiat 
per  hoc,  quod  orationi  aliquid  adveniat  formaliter  et  de- 
pereat,  quia  hoc  non  est  verum;  sed  eo  modo,  quo  Petrus 
similis  Paulo  in  albedine  dicitur  esse  mutatus  et  factus  dis- 
similis,  sola  mutatione  facta  in  Paulo,  utpote  facto  nigro,  et 
nulla  reali  mutatione  facta  in  Petro. 

Das  Urteil  ist  der  logische  Ausdruck  und  Träger  der 
Wahrheit :    veritas    —   die    geschöpfliche  im  Gegensatz  zur 

1)  Vgl.  Aristoteles,  Metaph.  IV  7. 


Der  Begriff  der  Erkenntnis  und  der  Wahrheit  47 

göttlichen,  wie  ausdrücklich  gesagt  wird  —  est  veritas  habi- 
tudinis  et  compositionis  praedicati  cum  subiecto  (die  Lösung 
der  6,  Objektion  in  der  ersten  Frage  der  Borghese-Hand- 
schrift).  *)  Dort  wird  auch  das  Verhältnis  der  Propositio 
oder  des  sprachlichen  Ausdrucks  zur  inneren  Aussage  be- 
schrieben :  eadem  veritas  per  propositionem  significatur,  quae 
etiam  ab  intellectu  intellegi  significatur. 

Die  Wahrheit  oder  Erkenntnis  als  ein  Meinen  und 
Bezeichnen  und  die  Gegenüberstellung  von  logischer  und 
ontologischer  Wahrheit  finden  ihre  Formulierung  in  der 
Lösung  der  24.  Objektion  der  nämlichen  Frage.  Ich  lasse 
wegen  der  Vieldeutigkeit  der  in  Frage  kommenden  Ausdrücke 
zuerst  eine  freiere  Übersetzung  folgen,  wie  sie  sich  aus  dem 
Zusammenhang  ergibt:  wie  der  gemeinte  Sachverhalt  von 
der  Aussage  —  dem  Urteil  oder  Denkinhalt  —  verschieden  ist, 
so  ist  auch  die  Wahrheit  der  ersteren  von  der  Wahrheit  der 
letzteren  verschieden  .  .  .,  wie  ja  auch  stets  die  idealen,  all- 
gemeinen Wesenheiten  von  der  ihr  entsprechenden  Einzel- 
natur verschieden  sind,  so  daß  diese  stets  und  tatsächlich 
etwas  anders  bedeutet  als  jene.  Sicut  est  aliud  ipsum  si- 
gnificatum  ab  ipsa  propositione,  ita  et  veritas  significati  a 
propositione  significante  . . .,  sicut  natura  ideata  differt  semper 
ab  ideato  realiter,  ita  quod  ideatum  semper  ponat  actu  aliam 
rem  ab  idea.  Ähnlich  wird  in  der  Lösung  der  25.  und  6.  Ob- 
jektion, die  vorhin  bereits  im  Auszug  gebracht  wurden,  von 
dem  Gegenstand  als  dem  durch  die  Erkenntnis  Bezeichneten 
und  der  Wahrheit  als  dem  Hinweisen  auf  ein  Objekt  ge- 
sprochen. 

Das  Erkennen  ist  die  Erfüllung  einer  Intention:  aspectus 
non  dicitur  figi  in  obiecto  per  suarum  essentiarum  materialem 
contactum,  sed  solum  per  hoc,  quod  huius  ad  illud  obiectum 
inclinatio  et  impendentia  firmiter  quietatur,  acsi  eins  essentia 
esset  in  obiecto  fixa. 

Das  Verhältnis  des  Ordo  metaphysicus  oder  der  ewigen 


1 )  Genau  wie  Leibniz :  De  scientia  universali  (Erdmann,  Opp. 
phil.,  p,  83),  Discours  de  mötaph.,  XIII  (Gerhardt,  Die  philos.  Schriften 
von  Leibniz,  4.  Bd.,  S.  436 ff.);  vgl.  Jansen,  Leibniz  erkenntnistheore- 
tischer Realist,  S.  27  f. 


48  5.  Kapitel 

Wahrheiten  zur  Wirklichkeit  des  Einzelnen  und  zu  Gott  be- 
leuchtet die  Lösung  der  6.  Objektion  der  ersten  Borghese- 
Frage.  Olivi  vertritt  hier  wie  in  Frage  13  des  Vaticanus, 
wo  er  ex  professo  gründlich  und  scharfsinnig  die  Univer- 
salien behandelt,  den  gemäßigten  Realismus  der  Aristoteliker. 
Im  1.  Teil  der  74.  Frage  heißt  es :  universale  nihil  reale  dicit 
aut  ponit  nisi  in  particularibus  suis.  Weiterhin  lehrt  er,  daß 
die  allgemeinen  Wahrheiten  nur  in  einem  sie  denkenden 
Verstand  tatsächlich  vorhanden  und  daß  sie  nur  in  den 
Einzeldingen  verwirklicht  sind,  daß  sie  aber  anderseits  als 
rationes  ideales  manent  rebus  destructis,  quia  talis  veritas, 
V.  g.  ratio  ternarii,  quantum  est  absolute  et  universaliter 
intellecta,  abstrahlt  ab  omni  re  particulari  et  ab  omni  tem- 
pore et  loco,  et  eadem  ratione  omnia  alia  universalia  dicuntur 
esse  ubique  et  semper.  Der  letze  Grund  dieser  metaphy- 
sischen Seins-  und  Wahrheitsordnung  ist  Gott  und  zwar  seine 
Wesenheit,  nicht  sein  Verstand.  Sie  fallen  aber  nicht  mit 
Gott  zusammen,  sondern  sind  bloß  in  seiner  Natur  und  in 
seinem  Verstand  begründet:  licet  veritas  divini  intelligere 
sit  veritas  simpliciter  et  summa,  obiecta  tamen  e  contrario 
quantum  ad  naturas  et  veritates,  quae  eis  competunt,  secun- 
dum  se  non  sunt  in  Deo  nisi  secundum  quid,  quia  non  sunt 
ibi  nisi  sicut  in  causa  vel  sicut  in  exprimente. 

So  weist  also  bei  Olivi  wie  bei  den  klassischen  Ver- 
tretern einer  realistischen  Erkenntnislehre  die  Logik  auf  die 
Ontologie,  das  Denken  auf  das  Sein  und  letztlich  auf  das 
Absolute  hin.  Es  ist  eine  einheitliche,  tief  durchdachte 
Weltanschauung.  Wie  Thomas,  so  verarbeitet  auch  Olivi 
Platonisch-augustinische  und  Aristotelische  Gedankenmotive 
zu  einem  abgerundeten,  inhaltlich  reichen  Begriff  des  Br- 
kennens^). 

1)  Mandonnet,  in  Dictionnaire  de  th6ol.  cath.,  unter  Fr^res-Prö- 
cheurs ;  Baeumker,  Die  Geschichte  der  christlichen  Philosophie  des 
Mittelalters ;  Suarez,  Disputationes  metaphysicae ;  Zeller,  Die  Philo- 
sophie der  Griechen,  2a  u.  2b  (Piaton  und  Aristoteles) ;  Kleutgen,  Die 
Philosophie  der  Vorzeit,  besonders  im  1.  Band. 


6.  Kapitel. 
Die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntnisvorgang. 

Das  ist  der  fundamentale  Unterschied  zwischen  der 
Aristotelisch-mittelalterlichen  und  der  Kantisch-neuzeitlichen 
Erkenntnislehre,  daß  dort  das  tatsächliche  Sein,  das  von  außen 
dem  Geist  gegenüberstehende  Objekt  das  Maß  und  das 
Kriterium  der  Wahrheit  abgibt,  daß  hingegen  bei  Kant  und 
seinen  Anhängern  die  Seinsgesetze  eine  Schöpfung  des 
Geistes  sind,  ihren  Ursprung  im  Subjekt  d.  h.  im  Bewußtsein 
überhaupt  haben  und  daß  die  Wahrheit  in  der  Überein- 
stimmung der  Erscheinungen  mit  der  Struktur  der  aprio- 
rischen Erkenntnisregeln  und  deren  normalem  Verlauf  be- 
steht^). Wie  darum  die  Darlegung  des  Erkenntnisverlaufes 
und  die  Erklärung  des  Ineinandergreifens  der  dabei  be- 
teiligten Faktoren  bei  den  Neueren  vom  Subjekt  ausgehen 
muß,  so  bei  den  Scholastikern  vom  Objekt. 

Die  Darlegungen  Olivis  über  die  Stellung  und  den  An- 
teil des  Gegenstandes  am  Erkennen  haben  zwei  Seiten.  Ein- 
mal wird  die  absolute  Notwendigkeit  desselben  hervorgehoben: 
der  Aspectus  der  Erkenntniskraft  —  ein  zentraler  Begriff 
seiner  Erkenntnislehre  —  muß  auf  etwas  Dingliches  oder 
Gegenständliches  gehen,  wie  mit  scharfer  Unterscheidung  von 
Subjekt  und  Objekt  oft  betont  wird.  Ist  kein  realer,  physi- 
scher Gegenstand  vorhanden,  dann  vertritt  das  Gedächtnis- 
bild, die  Species  memorialis,  seine  Stelle.  Darum  spezifiert 
auch  das  Objekt  den  Akt,  bestimmt  seinen  Vorstellungsin- 
halt  in    concreto,    wie    die    Ausführungen    im    4.    Teil    der 

1)  Ygl.  Kant,  Kritik  d.  R.  Y.,  2.  Aufl.  (Berliner  Ausg.,  3.  Bd.  S. 
234),  Proleg.,  §  13.  Anra.  III  (4.  Bd.  S.  290);  vgl.  Ch.  Sentroul,  Kant 
und  Aristoteles,  übersetzt  von  H.  Heinrichs,  Kempten  1911. 

4 


50  6.  Kapitel 

Frage  72  dartnn.  In  der  Lösung  der  2.  Objektion  der 
nämlichen  Frage  heißt  es:  sicut  actus  causantur  ab  obiecto 
tamquam  a  suo  termino  eos  terminante,  sie  trahunt  ab  eo 
speciem  obiecto  conformem,  et  hoc  modo  a  diversis  obiectis 
diversas  trahunt  species.  Darum  wird  der  Anteil  des  Ob- 
jektes am  Erkennen  als  eine  Causalitas  und  Cooperatio  be- 
zeichnet, die  Erkenntnis  selbst  ein  Abbilden,  Absiegeln,  Dar- 
stellen, Ausdrücken  desselben  genannt,  der  Gegenstand  übt 
eine  Vis  terminativa  auf  das  Erkenntnisvermögen  aus. 

Das  alles  sind  beinahe  scholastische  Selbstverständlich- 
keiten, die  aber  der  Vollständigkeit  halber  hier  ihren  Platz 
finden  mußten. 

Ganz  anders  ist  es  mit  der  zweiten  Seite  der  Theorie 
Olivis  über  die  Bedeutung  des  Objektes  bestellt.  Er  ent- 
wickelt da  eine  Ansicht,  die  er  selbst  als  ziemlich  vereinzelt 
dastehend  bezeichnet.  Am  Schluß  der  Lösung  der  14.  Ob- 
jektion der  Frage  58  sagt  er  nämlich:  sie  igitur  respondent 
isti,  [sc.  ad  istas  quindecim  probationes  quarti  decimi  argu- 
menti].  .  .  Licet  autem  isti  in  aliqua  parte  dictorum  suorum 
concordent  quibusdam  magnis  doctoribus  et  in  aliqua  alia 
parte  aliis  etiam  magnis,  in  quibusdam  tamen  omnino  dis- 
cordant  ab  omnibus.  Diese  letzte  Bemerkung  geht  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  auf  die  Stellung  des  Objektes. 
Ferner  bemerkt  er  im  Anfang  der  Frage  58:  quosdam  etiam 
vidi,  .  minoris  tamen  auctoritatis  quam  praedicti,  nämlich 
als  die  Aristoteliker  .  .  .  und  nun  folgt  die  Ansicht,  welche 
den  Einfluß  des  Objektes  leugnet.  Natürlich  braucht  Olivi 
entsprechend  dem  literarischen  Auftreten  seiner  Zeit  eine 
führende  Autorität  und  so  behauptet  er  auch  in  bezug  auf 
diesen  Punkt,  an  Augustinische  Gedanken  anknüpfen  zu 
wollen :  quia  vero  Augustinus  circa  actum  particularium  sen- 
suum  more  dubitantis  et  hinc  inde  fluctuantis  aliqua  dixit, 
daß  sie  nämlich  vom  Objekt  ursächlich  beeinflußt  werden, 
idcirco  id,  in  quo  certius  est  locutus,  pro  meo  modulo  pro- 
sequens  dico,  quod  cognitivi  actus  efficiuntur  a  potentia, 
non  tamen  per  solam  nudam  essentiam  eins,  immo  in  omni- 
bus exigitur  actualis  aspectus  super  obiectum  actualiter  ter- 
minatus  (Der  Anfang  des  Corpus  der  Frage  74). 


Die  Stellung  des  Objekte«  im  Erkenntnisvorgang  51 

Oliyi  leugnet  nun  allen  ursächlichen  Einfluß  des  Ob- 
jektes auf  das  Subjekt.  Umgekehrt  muß  er  folgerichtig 
letzteres  als  die  Totalarsache  des  Aktes  bezeichnen  und  im 
Gegensatz  zu  den  Aristotelikern,  die  neben  dem  Aktiven 
das  Passive  der  Erkenntniskräfte  stark  betonten*),  die  Ak- 
tivität derselben  auf  die  Spitze  treiben  2).  Überhaupt  tritt 
das  subjektive  Element  bei  Olivi  sehr  hervor.  Das  aber 
ist  der  fundamentale  Unterschied  zwischen  ihm  und  dem 
modernen  Subjektivismus,  etwa  dem  Kritizismus,  daß,  wie 
aus  dem  über  den  Erkenntnisbegriff  Gesagten  erhellt,  bei 
ihm  das  Subjektive  rein  psychologische  Bedeutung  im  Sinn 
des  Entstehens  der  Erkenntnisse,  bei  Kant  dagegen  kritisch- 
transzendentale Bedeutung  im  Sinn  des  Geltens  hat  ^).  Passiv 
sind  die  Fähigkeiten  nur  insofern,  als  sie  ihre  Akte  in  sich 
aufnehmen.  Man  ist  vielleicht  versucht,  an  eine  prästabi- 
lierte  Harmonie  im  Sinn  von  Leibniz  zu  denken,  indes  liegt  sie 
dem  mittelalterlichen  Denker  völlig  fern*). 

Nehmen  wir  den  Fall,  daß  eine  Species  memorialis  im 
Geist  vorhanden  ist,  dann  kann  nach  Olivi  die  Seele  aus 
sich  allein  den  gesamten  Erkenntnisprozeß  einleiten  und 
durchführen.  Innerhalb  des  Subjektes  schließt  sich  der  Kreis 
der  Kausalität.  Das  Objekt  hat  für  die  Erkenntnis  eine 
ähnliche  Bedeutung  wie  der  Terminus  für  die  Relatio,  darum 
wird  es  auch  ständig  Terminus,  Terminans,  Causa  termina- 
tiva,  gelegentlich  auch  Occasio  genannt  ^).    Wie  das  Wesen 


1}  Arist.,  De  anima,  II  5,  12:  III  4,  5;  vgl.  Baeumker,  Witelo, 
ß.  469ff. 

2)  Vgl.  das  darin  liegende  Platonisch-augustinische  Element  bei 
Baeumker  A.  a.  O.  467  ff.;  Grabmann,  Aqiiasparta,  S.  73 ff.,  95. 

3)  Vgl.  M.  Scheler,  Die  transzendentale  und  die  psychologische 
Methode,  Leipzig  1900. 

4)  Vgl.  Jansen,  Leibniz  erkenntnistheoretischer  Realist.  Bereits 
Baumgartner,  (Die  Erkenntnislehre  des  Wilhelm  v.  Auvergne,  S.  57) 
hatte  auf  die  Ähnlichkeit  der  Erklärung  des  Ursprungs  der  höheren 
Erkenntnis  seitens  W.  v.  A.  mit  Leibniz  hingewiesen,  zugleich  aber 
den  großen  Unterschied  betont.  Olivi  rückt,  weil  er  allen  Einfluß  der 
Sinnesdinge  leugnet,  Leibniz  noch  näher  ;  vgl.  die  Ausführungen  im 
9.  Kap.  S.  82  f. 

5)  Aquasparta    berichtet  von    solchen  Scholastikern,  nach  denen 


52  6.  Kapitel 

der  Relatio  durch  den  Terminus  innerlich  nicht  bestimmt 
oder  auch  nur  berührt,  sondern  durch  das  Hinweisen  oder 
Bezogensein  des  Gegenstandes  auf  denselben  begründet 
wird,  so  verhält  sich  nach  Olivi  das  Objekt  zur  Erkenntnis : 
der  Akt  wird  spezifiziert  durch  sein  inneres  Hinweisen  und 
Sicherstrecken  auf  das  Objekt.  Formalis  et  intrinseca  ratio 
actus,  qua  formaliter  terminatur  in  tali  obiecto,  est  effective 
et  influxive  ab  ipso  cognoscente  (Lösung  der  2.  Objektion 
in  Frage  72).  Quartus  modus  agendi  et  patiendi  est,  quando 
agens  agit  intra  se,  dirigendo  vim  suam  activam  in  obiectum 
extrinsecum  et  etiam  eo  ipso  aperiendo  et  applicando  suam 
potentiam  passivam  ad  ipsum  obiectum,  acsi  deberet  illud 
obiectum  intra  se  capore.  Et  hoc  modo  immediatum  prin- 
cipium  actionis  apprehensivae  vel  volitivae  agit  intra  poten- 
tiam animae  (1.  Praenot.  der  Frage  72).  Anderswo  vergleicht 
Olivi  die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntnisprozeß  mit  der 
Causalitas  finalis  und  gibt  damit  die  vorhin  gegebene  Auf- 
fassung in  anderer  Weise  wieder:  wie  das  Strebevermögen 
sich  zum  Guten  hinwendet,  so  die  Erkenntniskraft  zum 
Wahren. 

Freilich  läßt  sich  dieser  in  sich  unmögliche  und  den 
Tatsachen  widersprechende  Standpunkt  nicht  durchführen 
und  so  verdichtet  sich  unter  der  Hand  die  Occasio  und  der 
Terminus  zum  vere  Cooperans.  Noch  mehr,  in  den  Ausfüh- 
rungen, wo  Olivi  ex  professo  die  Stellung  des  Objektes  be- 
handelt (4.  Teil  der  Frage  72),  macht  er  dessen  Bedeutung 
zu  der  einer  Causa.  So  vereint  er  friedlich  beide  Seiten  in 
der  endgültigen  Prägung  „Causalitas  terminativa",  wodurch, 
wie  Scotus  ^)  mit  gewohntem  kritischen  Scharfsinn  ausführt, 
nichts  erklärt,  sondern  nur  etwas  Unmögliches  behauptet  wird. 

Beim  erstmaligen  Lesen  der  Causalitas  terminativa  ist  man 
geneigt^  in  ihr  einen  plumpen  Widerspruch,  eine  Contradictio 
in  terminis  zu  erbiicken.  Eine  sorgfältige  geschichtliche 
Betrachtung  wird  indes  den  Verfasser  von  einer  solchen 
logischen  Ungeheuerlichkeit  freisprechen.     Der  Begriff  „Cau- 

die  Sinneswelt  bloß  eine  gelegentliche  Bedeutung  für  das  mensch- 
liche Denken  hat  (Grabmann,  S.  76). 

1)  Sent.  (Opus  Oxon.),  I  d.  III  q.  7  Anfang. 


Die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntnisvorgang  53 

salitas,  Causa"  wurde  im  dreizehnten  Jahrhundert  im  wei- 
teren Sinn  genommen,  etwa  in  der  Bedeutung  unserer  deut- 
schen Ausdrücke  „  Vorbedingung,  Voraussetzung,  notwendiger 
Umstand,  Erfordernis,  Veranlassung".  So  spricht  Scotus  an 
der  erwähnten  Stelle  von  einer  Causa  sine  qua  non  und 
meint  damit  offenbar  Conditio  sine  qua  non.  Diese  Gleich- 
stellung tritt  besonders  in  den  scholastischen  Kommentaren  zum 
Anfang  des  vierten  Sentenzenbuches  zu  Tage,  wo  über  die 
Causalitas  Sacramentorum  zu  verhandeln  war.  So  gebraucht 
dort  Bonaventura  Causa  sine  qua  non  ganz  wie  Scotus  und 
stellt  sie  darum  auch  der  Causa  efficiens  gegenüber.  ^) 

Legen  wir  indes  nicht  bloß  den  systematisch-kritischen, 
sondern  auch  den  geschichtlichen  Maßstab  an,  so  wird  das 
Werturteil  milder  lauten.  Auch  Aristoteles  2)  bleibt  trotz 
seiner  geistvollen  Abstraktionstheorie,  deren  Linien  er  indes 
nur  allgemein  zeichnet,  die  Antwort  schuldig,  wie  denn  nun 
der  Notjg  Tcotoöv  in  Kraft  treten  könne,  in  welcher  ursächlichen 
oder  nichtursächlichen  Beziehung  das  Phantasma  zu  ihm 
stehe.  Thomas^)  hat  die  spärlichen  Andeutungen  des  Sta- 
giriten  genial  weiter  geführt,  vor  allem  will  er  in  dem  kau- 
salen Einfluß  des  Sinnenbildes  auf  den  Verstand  das  nötige 
Bindeglied  zwischen  Niederem  und  Höherem  gefunden 
haben.  Wie  sehr  indes  diese  Annahme  der  Grundauffassung 
Augustins,  wonach  Körperliches  in  keiner  Weise  auf  Gei- 
stiges einwirken  kann^),  widerspricht,  liegt  auf  der  Hand. 
Und  so  hat  Suarez  ^),  gewiß  ein  sehr  selbständiger,  be- 
deutender Denker,  um  die  in  dieser  Erklärung  liegende 
Schwierigkeit  zu  umgehen,  an  Stelle  der  Kausalität  des 
Phantasmas  die  Colligantia  oder  Sympathia  der  sinnlichen 
und  geistigen  Erkenntniskräfte  gesetzt,  um  so  die  Vermittlung 
von  jener  auf  diese  zu  erklären.  Urteilen  wir  gar  erst  vom 
Standpunkt  der  modernen  Philosophie,  so  wird  uns  das  Irren 
Olivis  noch  verständlicher.    Leibniz,  gewiß  einer  der  größten 


1)  Seilt.,  IV  d.  I  p.  I  art.  unicus  q.  4  Conclusio. 

2)  Vgl.  De  anima,  III  4  ff. 

3)  Besonders  S.  th ,  I  q.  84—89. 

4)  De  musica,  VI  5;  De  gen.  ad  lit.,  XII  16,  19,  20. 

5)  De  anima,  lib.  IV  cap.  2  n.  7  sqq. 


54  6.  Kapitel 

Denker,  läßt  gemäß  seiner  Theorie  der  Monadologie  und 
prästabilierten  Harmonie  die  Erkenntnisse  unabhängig  von 
aller  äußeren  Einwirkung  entstehen.  Trotzdem  ist  er  Realist^). 
Ähnlich  sind  Geulincx  und  Malebranche  ungeachtet  ihres 
Okkasionalismus,  gemäß  welchem  die  Dinge  nicht  aufeinander 
wirken,  sondern  nur  von  Gott  beeinflußt  werden,  Realisten. 
So  können  wir  denn  Olivis  Irren  verstehen  und  müssen  trotz 
der  scharfen  Abweisung  seiner  Ergebnisse  doch  die  Energie 
und  Selbständigkeit  seines  Denkens  anerkennen. 

Ein  Hauptgrund,  warum  er  den  Einfluß  des  Objektes 
ablehnt,  ist  derselbe  wie  derjenige,  den  er  so  oft  bei  der 
Verwerfung  der  Species  anführt:  jeder  Erkenntnisakt  ist  ein 
streng  einheitlicher,  der  in  sich  zwei  Formalitäten  befaßt, 
nämlich  das  subjektive,  psychische  Sein  und  das  Darstellen 
eines  Objektes  als  ein  Sichhinwenden  auf  etwas  außer  ihm. 
Beide  Formalitäten  sind  aber  nicht  reell  verschieden,  son- 
dern bloß  zwei  verschiedene  Seiten  ein  und  derselben  Entität. 
Diese  Einheit  im  Sein  setzt  aber  auch  eine  einheitliche  Kau- 
salität voraus.  Ginge  darum  der  Akt  teilweise  vom  Objekt  aus, 
so  wäre  es  um  diese  Einheit  geschehen.  Überdies  gehörte 
der  vom  Objekt  ausgehende  Anteil  nicht  dem  lebendigen 
Ich  an,  wäre  also  nicht  psychisch '-').  Trotz  der  Haltlosigkeit 
dieser  Beweisführung  ist  auch  hier  wieder  der  offene  Blick 
für  das  zugrunde  liegende  Problem  anzuerkennen ;  bei  der 
Verw-erfung  der  Species  werden  wir  denselben  kritischen 
Zug  wiederfinden. 

Ein  weiterer  Beweis  wird  aus  dem  Selbstbewußtsein 
genommen.  Wenige  Scholastiker  berufen  sich  mit  Augustin, 
Descartes  und  andern  Modernen  so  häuficr  auf  die  Tat- 
Sachen  der  inneren  Erfahrung  wie  Olivi-^),  häufig  mit  gutem 
Erfolg.  Hier  schießt  er  über  das  Ziel  hinaus.  Er  argumen- 
tiert: unser  Bewußtsein  berichtet  uns,  daß  die  Akte  von  uns 
ausgehen  und  uns  angehören,  also  sind  wir  ihre  Totalur- 
sache.    Der   Trugschluß   liegt   auf   der   Hand:    freilich    sagt 


1)  Monadologie,  n.  7,  11,  22  u.  an  zahlreichen  anderen  Stellen;  vgl. 
Jansen,   Leibniz  erkenntnistheoretischer  Realist. 

2)  Vgl.  Aquasparta,  bei  Grabmann,  S.  77. 

3)  Vgl.  Jansen,  Ein  neuzeitlicher  Anwalt  der  menschlichen  Freiheit. 


Die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntnisvorgang  55 

uns  die  innere  Erfahrung,  daß  die  Akte  von  uns  verursacht 
sind,  aber  nicht,  daß  sie  vollständig  von  uns  ausgehen. 

Ein  dritter  Grund  für  die  Leugnung  des  Einflusses  des 
Objektes  wird  aus  der  Notvrendigkeit  des  Aspectus  her- 
genommen. Immer  und  immer  wieder  betont  Olivi  die  Wichtig- 
keit desselben.  Sophistisch  schließt  er  sofort:  also  genügt 
der  Aspectus. 

In  dieser  ganzen  Beurteilung  der  Bedeutung  des  Ob- 
jektes spricht  sich  klar  die  philosophiegeschichtliche  Stellung 
Olivis  aus.  Er  knüpft  da  offenbar  an  Augustinische  Ge- 
danken an,  um  sie  schöpferisch  weiter  zu  führen.  So  erklärt 
er  selbst  in  Frage  73  bei  Aufstellung  seiner  These,  welche 
den  Einfluß  des  Objektes  bestreitet:  relictis  ergo  duabus 
partibus  opinionis  praemissae  [sc.  Augustini]  tertiam  [sc. 
quod  secundum  Augustinum  potentiae  virtualiter  attingunt, 
ubi  realiter  non  sunt]  explicare  et  probationibus  fulcire 
intendo.  Tatsächlich  vollzieht  sich  bei  diesem  das  höhere 
Erkennen  unabhängig  von  aller  Einwirkung  der  existierenden 
Sinnendinge  ^),  die  Seele  schaut  im  Lichte  der  göttlichen  Ein- 
strahlung die  geistige  Welt. 

Philosophiegeschichtlich  wäre  es  nun  höchst  interessant 
und  wissenswert  zu  erfahren,  welches  diese  kleine  Schar 
wenig  beachteter  Scholastiker  war,  die  diese  Ansicht  hielten : 
quosdam  etiam  vidi,  minoris  tamen  auctoritatis  quam  prae- 
dicti,  nämlich  die  Aristoteliker,  heißt  es  in  Frage  58  und 
weiterhin:  in  quibusdam  tamen  omnino  discordant  ab  omnibus, 
wo  man  unter  in  quibusdam  am  besten  die  Leugnung  des 
Einflusses  des  Objektes  zu  verstehen  hat,  da  sich  in  bezug 
auf  die  anderen  dort  erwähnten  Lehrpunkte  kein  solcher 
Gegensatz  zu  „Allen"  findet.  Wer  sind  also  die  Zeitgenossen 
Olivis,  die  allen  Einfluß  des  Objektes  auf  die  Erkenntnis- 
fähigkeit leugneten  und  welches  sind  die  historischen  Vor- 
bedingungen dieser  merkwürdigen  Theorie? 

Nach  dem  jetzigen  Stand  der  Forschung  können  wir  die 
erste  Frage  schwerlich  beantworten.  Olivi  macht  uns,  wie 
es    scheint,    zum    erstenmal    in    überraschender   Weise    mit 

1)  Vgl.  De  gen.  ad  lit.,  XII  16  n.  19,  20,  32;  De  musica,  YI  5 
n.  8,  9    10,  12. 


56  6.  Kapitel 

diesem  eigenartigen  Lösungsversuch  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert bekannt  und  bezeugt  damit  aufs  neue,  daß  innerhalb 
der  Hochscholastik  weit  mehr  wissenschaftliche  Differen- 
zierungen und  entgegengesetzte  Strömungen  vorhanden  waren 
als  man  bis  auf  die  letzten  Jahre  glaubte.^) 

Dagegen  können  wir  die  geschichtlichen  Bedingungen 
und  Einzelmotive,  aus  denen  die  Olivische  Ansicht  naturge- 
mäß hervorwuchs,  mit  Wahrscheinlichkeit  aufdecken.  Es 
brauchte  bloß  die  Lehre,  daß  das  höhere  Erkennen  schöpfe- 
risch aus  dem  Grunde  der  Seele  entstehe,  zu  der  parallelen 
Annahme  hinzugesellt  werden,  daß  auch  die  Sinneserkennt- 
nisse ohne  ursächliche  Beziehung  zu  den  äußeren  Gegen- 
ständen, rein  durch  die  Spontaneität  des  Subjektes  zustande 
kommen.  Freilich  geht  Olivi  in  Frage  73  noch  weiter  und 
stellt  seine  These  nicht  bloß  für  das  Erkennen,  sondern  auch 


1)  Vgl.  Baeumker,  Die  christliche  Philosophie  des  Mittelalters, 
S.  339  ff. ;  Ueberweg-Baumgartner,  S.  196  ff.  Lehrreich  ist,  was  Suarez 
(De  anima,  lib.  III  cap.  1  n.  1,  2)  über  die  Vorgeschichte  dieser  An- 
sicht berichtet.  Die  Frage  lautet:  utrura  ad  actum  cognoscendi  ne- 
cessaria  sit  coniunctio  obiecti  cum  potentia.  Es  ist  der  Sache  nach 
dieselbe  Problemstellung  w^ie  bei  Olivi.  In  der  ersten  Nummer  wird 
die  negative  Ansicht  mit  zwei  Gründen  verteidigt,  natürlich  bloß  im 
Sinn  der  Gregner,  obiectionis  gratia.  Primo,  quia  terminus  actionis 
non  praerequiritur  ad  actionem,  ut  propterea  debeat  esse  coniunctus 
agenti,  obiectum  autem  cognoscibile  est  terminus  actionis,  ergo.  Se- 
cundo,  vel  necessarium  esset  obiectum  coniungi  potentiae  secundum 
suum  esse  reale  vel  secundum  illius  similitudinem.  Non  prius,  nam 
intellectus  cognoscit  hominem,  quem  realiter  intra  se  non  habet;  ac 
de  sensibus  ait  Aristoteles,  quod  super  eos  positum  sensibile  non  causet 
eensationem.  Posterius  etiam  non  videtur  necessarium,  cum  fictitiae 
videantur  huiusmodi  species.  Das  sind  andere  Beweisgründe  als 
bei  Olivi. 

In  der  folgenden  Nummer  bringt  Suarez  eine  lange  Liste  von 
Verteidigern  dieser  Lehre;  er  schickt  voraus,  daß  es  im  Grunde  die- 
selben Philosophen  seien,  die  auch  die  Species  leugneten,  was  ja  auch 
bei  Olivi  vollauf  zutrifft.  Dann  zählt  er  auf:  quam  opinionem  tribuit 
Galeno  Gregorius  Nyssenus  libro  De  viribus  animae  cap.  2;  Divus 
Augustinus  etiam  libro  De  quantitate  animae  cap.  23.  videtur  sen- 
tire  visionem  non  fieri  potentia  aliquid  recipiente.  Idem  tenet  Se- 
neca  libro  1.  Naturalium  quaestionum  ac  tribuunt  Piatoni  Plotinus 
Enneade  4.  et  Porphjrius  libro  De  sensu.  Es  folgen  die  Nomina- 
listen  Occam,  Biel,  Durandus. 


Die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntuisvorgang  57 

für  jede  andere  Tätigkeit  auf :  an  aliqua  virtus  cognitiva  vel 
quaecunque  alia  secundum  suam  essentiam  exterius  non 
emissa  possit  ab  extrinseco  et  distanti  medio  vel  obiecto 
absque  eorum  influxu  mutari  vel  pati.  Indes  kommen  hier 
von  dieser  allgemeinen  metaphysischen  Auffassung  nur  die 
Brkenntnisfähigkeiten  in  betraeht. 

Daß  nun  das  Enstehen  der  höheren  Akte  von  verschie- 
denen Scholastikern  mit  Berufung  auf  Augustin  ^)  restlos  aus 
der  geistigen  Zeugungskraft  des  Verstandes  erklärt  wurde,  be- 
richtet unsScotus,  der  Zeitgenosse  von  Olivi  war.  In  der  Haupt- 
untersuchung über  den  Ursprung  der  Denkakte  ^)  zählt  er  in 
der  Reihe  der  ihm  vorliegenden  sechs  Erklärungsversuche  an 
erster  Stelle  folgenden  auf :  in  ista  quaestione  est  una  opinio,quae 
attribuit  totam  activitatem  respectu  intellectionis  ipsi  animae; 
et  imponitur  Augustino,  qui  dicit,  es  folgen  die  von  Olivi 
wiederholt  zitierten  Stellen  De  musica  XII  16  und  De 
Trin.  X  5.  Mit  Recht  setzt  die  Venediger  Ausgabe  der 
Werke  des  Doctor  Subtilis  vom  Jahre  1680  daneben  „Opinio 
Henrici''.  Tatsächlich  vertrat  Heinrich  v.  Gent  bei  seinem 
durchaus  konservativ  gerichteten  Augustinismus  diese  An- 
sicht^). Längst  vor  ihm  hatte  Wilhelm  v.  Auvergne^),  dem 
Olivi  auch  in  anderer  Hinsicht  verwandt  ist,  die  Entstehung 
der  höheren  Erkenntnis  aus  der  ursächlichen  Beziehung  zu 
dem  Gegenstand  losgelöst,  wenn  er  der  Sinneserkenntnis 
nur  die  Aufgabe  einer  Conditio  sine  qua  non,  einer  Veran- 
lassung anwieß  und  die  höheren  Akte  aus  dem  formgebenden, 
schöpferischen  Schoß  des  Intellectus  materialis  sich  enwickeln 
ließ  5). 

Anders   als   mit  der  Verstandeserkenntnis  stand  es  mit 


1)  Vgl.  die  vorhin  erwähnten  Stellen  S.  55. 

2)  Sent.  (Opus  Oxon.),  I  d.  III  q.  7  Anfang;  auch  Suarez  (De 
anima,  lib.  III  cap.  1  n.  3)  berichtet  von  Vertretern  dieser  Ansicht; 
außer  Durandus  und  Joannes  Baconius  (der  Karmelit  und  Averroist 
Johann  Baconthorp,  vgl.  Ueberweg-Baumgartner,  S.  545 f.),  Sent.,  II 
d.  6  q.  1  wird  Heinrich  v.  Grent  zitiert. 

3)  Quodlib.,  IV  q.  7;  V  q.  14;    XI  q.  5;  XIII  q.  11 ;  vgl.  de  Wulf, 
p.  89  sqq. 

4)  De  anima,  VII  3,  4;  Baumgartner,  S.  48  ff. 

5)  Baumgartner,  S.  56f. ;  vgl.  Kap.  9  S.  82  f. 


58  6.  Kapitel 

der  sinnlichen.  Für  diese  hatte  Augustin  ausdrücklich 
Species  oder  eine  Einwirkung,  die  vom  Gegenstand  aus- 
geht, verlangt  ^).  Und  doch  war  mit  der  Konsequenz  seiner 
Theorie  der  Erklärungsversuch  gegeben,  jeden  ursächlichen 
Einfluß  des  Objektes  zu  leugnen.  Einmal  lehrte  nämlich 
Augustin,  daß  jeder  vitale  Akt  als  solcher  nur  von  der  ein- 
fachen Seele  vollzogen  würde  und  daß  das  sinnliche  Er- 
kennen nicht  sowohl  ein  Wahrnehmen  des  äußeren  Ge- 
genstandes als  ein  Aufmerken  der  Seele  auf  die  durch 
ihn  im  eigenen  Körper  vollzogene  Veränderung  sei*).  So- 
dann lehrte  er  mit  den  Piatonikern  ein  förmliches  physi- 
sches Wandern  der  Erkenntniskraft  zum  wahrgenommenen 
Gegenstand  3).  Um  diese  Unmöglichkeiten,  auf  die  Olivi 
wiederholt  kritisch  hinweist,  zu  beseitigen,  lag  es  für  einen 
getreuen  Schüler  Augustins,  der  an  dessen  Grundgedanken 
von  dem  Vorgang  der  sinnlichen  Erkenntnis  als  eines  rein 
seelischen  Geschehens  festhielt  und  überdies  eine  harmo- 
nische, einheitliche  Erklärung  für  das  sinnliche  und  höhere 
Erkennen  geben  wollte,  nahe,  ersteres  nach  Analogie  des 
letzteren  zu  fassen  und  vollen  Ernst  mit  dem  Augustinischen 
Prinzip^)  zu  machen,  daß  Körperliches  in  keiner  Weise  auf 
Geistiges  einwirken  könne.  Dann  aber  ergab  sich  mit  Not- 
wendigkeit die  Unabhängigkeit  der  Sinneserkenntnis  als  eines 
rein  seelischen,  einfachen  Aktes  von  allem  ursächlichen 
Einfluß  des  äußeren  Objektes,  wie  es  Olivi  lehrte.  Damit 
war  der  Augustinische  Aktivismus  der  Seelentätigkeiten  zu 
einem  abgerundeten  System  ausgebildet. 

Ganz  dieselbe  Tendenz  lag  in  der  Theorie  Piatons,  wie 
sie  darum  auch  von  manchen  Neuplatonikern  durchgeführt 
zu  sein  scheint^).  Zu  diesen  spezifisch  psychologischen 
Motiven  gesellte  sich  bei  letzteren    noch   ein  allgemeineres, 

1)  De  muBica,  VI  5;  De  Trin.,  XII  2. 

2)  De  rausica,  VI  5. 

3)  De  quant.  animae,  VI  2,  3;  De  rausica,  VI  8;  De  gen.  ad  lit., 
IV  34;  I  16;  De  Trin.,  IX  3. 

4)  De  musica,  VI  5;  De  gen.  ad  lit.,  XII  16,  19,  20;  De  Trin.,  X 
5;  Oonfees.,  XIII  2. 

5)  Vgl.  Suarez,  De  anima,  üb.  III  cap.  1  n.  2 :  tribuunt  hanc  opi- 
nionom  Piatoni  Plotinus  (Enncade  4)  et  Porphyrius  (De  Bensu). 


Die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntnisvorgang  59 

metaphysisches,  das  möglicher  Weise  in  derselben  Richtung 
arbeitete,  wenngleich  die  Tatsächlichkeit  seiner  Einwirkung 
bislang  noch  nicht  nachweisbar  ist^).  Der  Liber  de  causis*) 
stellt  nämlich  die  Seele,  als  am  Horizont  der  geistigen  oder 
ewigen  und  der  sinnlichen  oder  veränderlichen  Welt  befind- 
lich, jenseits  der  Zeit,  also  indirekt  auch  jenseits  des  Raumes. 
Was  lag  da  näher,  als  aus  diesem  so  beschaffenen  Sein 
auch  auf  ein  entsprechendes  Handeln  zu  schließen,  oder  die 
psychologischen  Folgerungen  aus  diesem  metaphysischen 
Prinzip  abzuleiten?  Dann  aber  ist  der  Mensch  in  seinem 
Erkennen  unabhängig  vom  Wandel  der  Sinneseindrücke, 
ebenso  wie  er  in  seinem  Sein  jenseits  der  Veränderlichkeit 
von  Zeit  oder  Bewegung  steht. 

Diese  letzte  philosophische  Betrachtung  leitet  zu  theo- 
logischen Gesichtspunkten  über,  die,  weil  im  Gesamtbewußt- 
sein der  damaligen  Zeit  liegend,  zu  der  Ausbildung  der  von 
Olivi  vorgetragenen  Lehre  bewußt  oder  unbewußt  beigetragen 
haben  dürften.  Wir  sagten,  diese  Erwägungen  hätten  im  Gesamt- 
bewußtsein gelegen;  vor  allem  deshalb,  weil  sie,  wie  gleich 
zu  zeigen  ist,  außer  bei  einem  so  angesehenen,  viel  zitierten 
Scholastiker  des  zwölften  Jahrhunderts,  wie  es  Hugo  v.  St. 
Victor  war,  auch  in  dem  Werk,  welches  schlechthin  das  theolo- 
gische Lehrbuch  jener  Zeit  war,  welches  dem  mündlichen  Unter- 
richt zu  Grunde  lag  und  immer  und  immer  wieder  in  schrift- 
lichen Erzeugnissen  kommentiert  wurde,  in  den  Sentenzen 
des  Petrus  Lombardus,  ihren  Eingang  gefunden  hatten. 
Hugo  V.  St.  Viktor^)  und  der  Lombarde^)  behandeln  nämlich 
den  Zustand  des  ersten  Menschenpaares  im  Stande  der 
Gnade  vor  dem  Sündenfall  und  lehren,  daß  Adam  sowohl 
die  sinnliche  als  die  geistige  Welt  unmittelbar  durch  einge- 
gossenes Wissen  schaute.    Von  diesen  übernahm  u.  a.  Wilh. 

1)  Vgl.  hierüber  Baumgartner,  Die  Erkenntnislehre  des  Wilh. 
V.  Auvergne,  S.  18  ff. 

2)  §  2  S.  165 :  esse  autem,  quod  est  post  aeternitatem  et  supra 
tempus,  est  anima,  quoniam  est  in  orizonte  aeternitatis  inferius  et  supra 
tempus. 

3)  De  sacramentis,  lib.  1.  pars  6  cap.  12,  14;  vgl.  Stöekl,  Gesch. 
d.  Phil.  d.  Mittelalters,  1.  Bd.  S.  339. 

4)  Sent,  II  d,  23  n.  2,  3;  vgl.  Stöekl,  S.  409. 


60  6.  Kapitel 

V.  Auvergne  ^)  diesen  Gedanken.  Damit  war  vom  theolo- 
gischen Standpunkte  aus  die  Möglichkeit  einer  Erkenntnis 
von  Außenobjekten  ohne  deren  ursächlichen  Einfluß  gegeben. 
Bei  der  engen  Verbindung  von  Theologie  und  Philosophie 
im  Mittelalter  oder  besser  bei  der  einheitlichen  philosophisch- 
theologischen Lebensanschauung  der  christlichen  Scholastiker 
konnten  sich  nun  leicht  spezifisch  theologische  Betrachtungs- 
punkte, wenn  auch  unbewußt,  in  rein  philosophischen  Ab- 
leitungen, die  aus  ganz  andern  Quellen  flössen,  geltend 
machen. 

Damit  dtirften  wir  die  geschichtlichen  Entstehungsgründe 
und  psychologischen  Voraussetzungen  dieser  merkwtlrdigen 
Lehre,  wie  sie  bei  Olivi  auftritt,  aufgezählt  haben.  Daß  er  sie  in 
ihrer  wesentlichen  Ausgestaltung  bereits  bei  andern  vorfand, 
sagt  er  ausdrücklich.  Wir  sind  aber  um  so  mehr  genötigt, 
diese  Bezeugung  trotz  der  sonst  oft  angewandten  Diplomaten- 
künste hier  wörtlich  zu  nehmen,  weil  er  sich  anderswo,  wo  er 
offenbar  eine  ganz  neue  Ansicht  vorträgt,  wie  z.  B.  in  bezug 
auf  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele  (q.  51),  auf  keine 
andern  Autoren  beruft,  sich  vielmehr  für  sie  als  sein  eigenes 
Geisteskind  einsetzt. 

Offenbar  hat  Scotus^)  die  Ansicht,  wie  sie  Olivi  vertritt, 
im  Auge,  —  ob  er  diesen  selbst  meint,  läßt  sich  bei  dem 
Takt  der  mittelalterlichen  Scholastiker,  die  Zeitgenossen  nicht 
mit  ihrem  TsTamen  zu  nennen,  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden, 
wahrscheinlich  ist  es  Olivi,  zumal  Scotus  sein  Mitbruder  war 
und  seine  Informationslehre  in  eindeutiger  Bestimmtheit 
wiedergibt^)  — ,  wenn  er  in  der  Frage:  utrum  pars  Intel- 
lectiva  vel  aliquid  eins  sit  causa  gignens  vel  ratio  gignendi 
notitiam  actualem*)  als  ersten  Lösungsversuch  anführt:  in 
ista  quaestione  est  una  opinio,  quae  attribuit  totam  acti- 
vitatem  respectu  intellectionis  ipsi  animae  et  imponitur 
Augustino.      Nach    ihrer  Widerlegung   folgt    eine   Instantia, 


1)  De  univ.,  II  p.  III  c.  21 ;  De  an.,  VII  6;    VI  33;  V  15,  17;  vgl. 
Baumgartner,  S.  18  ff. 

2)  Sent.  (Opus  Oxon.),  I  d.  III  q.  7  Anfang. 

3)  De  rerum  principio,  q.  9  a.  2  sect.  1  n.  16;   q.  11   a.  2  n.  6,  7. 

4)  A.  a.  O.  des  Opus  Oxon. 


Die  Stellang  des  Objektes  im  Erkenntnisvorgang  61 

die  ebenfalls  abgelehnt  wird:  fugere  autem  ad  causam  sine 
qua  non  —  offenbar  gleich  conditio  sine  qua  non  — ,  quae 
requiritur  ad  hoc,  ut  notitia  gignatur,  hoc  est  dicere,  quod 
omnes  per  se  causae  non  sunt  sufficientes  causae,  sed  re- 
quiritur aliquid  aliud,  a  quo  res  causanda  dependet  essen- 
tialiter.  Ergo  non  erunt  tantum  quatuor  causae  .  .  .  vel  ali- 
quid dependebit  essentialiter  ab  aliquo,  quod  non  est  causa 
eins  .  .  .  Per  hoc  etiam  improbantur  diversi  modi  ponendi 
tenentium  istam  opinionem:  sive  enim  ponatur  obiectum 
necessarium  in  ratione  causae  sine  qua  non  vel  in  ratione 
termini  vel  in  ratione  excitantis,  si  non  detur  sibi  aliqua  per 
se  causalitas,  cum  ipsae  per  se  causae  sint  perfectae  in  se 
et  approxiraatae  et  omne  impedimentum  remotum,  quomodo 
salvabitur,  quod  ipsum  necessario  requiratur,  nisi  ponendo 
quinque  genera  causariim?  Das  sind  offenbare  Anspielungen 
an  die  Ausdrücke  Occasio,  Terminus  et  Terminatio,  Causa- 
litas terminativa  als  fünfte  Ursächlichkeit,  an  die  Zurück- 
führung  dieser  Theorie  auf  Augustin,  wie  sich  das  alles  in 
der  Ansicht  Olivis  vorfindet. 

Diese  Theorien  über  die  Stellung  des  Objektes  werden 
ex  professo  in  Frage  72  entwickelt.  So  heißt  es  in  der 
zweiten  Vorbemerkung  im  Anfang  der  Frage :  licet  obiectum, 
pro  quanto  solum  terminat  aspectum  virtutis  cognitivae  et 
suae  actualis  cognitionis,  non  habeat  simpliciter  et  proprie 
rationem  efficientis,  quia  formalis  terminatio  praedicti  aspec- 
tus  non  est  aliqua  essentia  realiter  differens  ab  ipso  aspectu 
et  saltem  non  est  influxa  vel  educta  ab  obiecto :  nihilomi- 
nis  potest  large  connumerari  inter  causas  efficientes  . .  ., 
quia  virtus  activa  potentiae  cognitivae  sie  necessario  eget 
tali  termino  et  eins  terminatione  ad  hoc,  quod  producat  actum 
cognitivum,  acsi  praedictus  terminus  influeret  aliquid  in 
ipsam  vim  cognitivam  et  in  eins  actum.  Tale  autem  efficere 
non  est  ibi  secundum  rem  aliud  quam  vim  activam  absque 
tali  termino  et  terminatione  non  posse  agere  suum  actum 
et  posse  hoc  cum  ipso,  ita  quod  intrinseca  et  formalis  ter- 
minatio virtutis  activae  est  vere  coefficiens  actionem  ipsius 
virtutis. 

Im    vierten  Teil    der  Frage    72,    quomodo   obiectum,  in 


62  6.  Kapitel 

qnantum  terminat  aspectns  et  actus  potentiarum,  cooperatur 
speeificae  productioni  eorum,  wird  die  Stelle  gebracht,  die 
bereits  im  fünftem  Kapitel  zitiert  wurde.  ^)  Im  Zusammen- 
hang damit  erwähnt  Olivi  das  Beispiel,  das  häufig  wieder- 
kehrt: sicut  enim  actualis  irradiatio  vasis  sphaerici  vel  qua- 
drati  fit  sphaerica  vel  quadrata  ex  hoc  solo,  quod  lux  generat 
illam  cum  conformitate  ad  figuram  sui  suscipientis  et  con- 
tinentis,  sie  quia  vis  cognitiva  generat  actum  cognitivum 
cum  quadam  informativa  imbibitione  actus  ad  obiectum  et 
cum  quadam  sigillari  et  viscerali  tentione  obiecti,  idcirco 
eo  ipso,  quod  sie  gignitur,  fit  ipse  similitudo  et  sigillaris  ex- 
pressio  obiecti.  Et  ex  hoc  est,  quod  simplex  essentia  actus 
cognitivi  habet  in  se  duas  nobiles  rationes,  quarum  prior 
est  quasi  fundamentalis  ad  secundam  et  secunda  est  quasi 
differentialis  determinatio  primae.  Ex  hoc  enim,  quod  actio 
cognitiva  exit  a  spirituali  luce  principii  cognitivi,  habet^  quod 
Sit  quaedam  lux  et  quasi  quidam  radius  analogice  similis 
suo  principio,  a  quo  fluit.  Ex  hoc  vero,  quod  est  talis  ob- 
iecti seu  in  tali  obiecto  terminatus  et  fixus,  habet,  quod  sit 
eius  expressiva  visio  seu  cognitio  et  simillima  imago  .  .  Et 
haec  ratio  se  habet  ad  primam  sicut  articulatio  vocis  se 
habet  ad  suam  rationem  generalem,  qua  est  sonus.  Si  autem 
obiectum  influeret  hanc  secundam  rationem  et  vis  cognitiva, 
quaecunque  illa  sit,  influeret  primam :  tunc  essent  neces- 
sario  duae  essentiae  diversae  et  diversorum  generum  et 
specierum,  essent  etiam  duae  actiones  a  duobus  principiis 
diversorum  generum  factae  .  .  .  Supposito  igitur,  quod  hae 
duae  rationes  non  sint  duae  essentiae  realiter  distinctae, 
sed  solum  una,  tunc  ambae  fiunt  a  vi  cognitiva  sicut  ab 
agente  et  iterum  ambae  fiunt  ab  obiecto  sicut  a  terminante  . . . 
Potest  autem  causa  obiectiva  proprio  poni  in  genere  causae 
finalis  aut,  si  propriori  nomine  vis  eam  vocare,  vocetur  causa 
terminativa.  Sicut  enim  causa  materialis  habet  vere  ratio- 
nem causae  respectu  educti  ex  ea  vel  recepti  in  ea,  quam- 
vis  non  sit  proprio  causa  efficiens  eius :  sie  causa  termina- 
tiva habet  vere  rationem  causae,  quamvis  non  sit  proprio 
causa  efficiens  actionis  terminatae  in  ipsa. 
1)  S.  42  f. 


Die  Stellung  des  Objektes  im  Erkenntnisvorgang  63 

Die  Darlegungen  im  ersten  Teil  von  Frage  74  tiber  die 
Notwendigkeit  der  stellvertretenden  Species  memoralis  in 
Abwesenheit  des  Gegenstandes,  wie  sie  hier  mit  vier  Gründen 
ausführlich  nachgewiesen  und  sonst  noch  häufig  berührt 
wird,  werfen  neues  Licht  auf  die  Bedeutung  des  Objektes: 
primo,  quia  omnis  aspectus  ad  obiectum  directus  terminatur 
necessario  in  aliquo ;  sed  cum  cogitamus  aliquam  rem,  quae 
non  est  actu  aut,  si  est,  non  est  nostro  aspectui  praesens, 
tunc  aspectus  non  potest  figi  et  terminari  in  illa.  Ergo  oportet, 
quod  aliqua  rei  imago  obiciatur  tunc  aspectui  et  terminet 
ipsum.  Secundo,  quia  si  nullius  obiecti  praesentia  est  ad 
actum  cognitivum  necessaria,  tunc  non  indigemus  conver- 
tere  potentiam  et  eins  aspectum  ad  aliquid,  immo  absque 
omni  conversione  et  absque  omni  aspectu  cogitabimus  hoc; 
constat  autem  assiduo  experimento  hoc  nos  non  posse  .  .  . 
Quarte,  quia  potentia  non  habet  ex  se  sola  exprimere  et 
repraesentare  sua  obiecta,  quia  tunc  sua  essentia  absolute 
sumpta  esset  propria  et  expressa  similitudo  omnium  obiec- 
torum  ab  ea  possibilium  cognosci  vel  cogitari;  quod  est  im- 
possibile.  Ergo  oportet  quod  aut  obiectum  se  praesentet  ei 
ÄUt  quod  in  aliqua  imaginatione  ei  repraesentetur. 


7.  Kapitel. 

Die  Verwerfung  der  Spezies. 

Frage  74  und  der  Anhang  zur  Lösung  der  13.  Objektion 
in  Frage  58  behandeln  ausführlich  dieses  Lehrstück. 

Das  ganze  hierhergehörige  öedankenraaterial  läßt  sich 
erschöpfend  unter  folgenden  Gesichtspunkten  zusammen- 
fassen^). 

Erstens:  Die  Spezies  sind  überflüssig.  Das  ergibt  sich 
aus  der  Natur  der  Erkenntnis.  Wenn  sich  die  erkennende 
Fähigkeit  und  das  Objekt  in  genügender  Nähe  gegenüber- 
stehen —  man  erinnere  sich  hier  an  Olivis  naiven  Stand- 
punkt — ,  braucht  es  bloß  des  Aspectus,  um  dasselbe  zu  er- 
fassen. Ist  es  nicht  physisch  gegenwärtig,  so  wird  es  durch 
die  Species  memorialis  ersetzt;  diese  aber  ist  nicht  die  ver- 
mittelnde Wirk-  und  Formalursache,  sondern  der  Terminus 
der  Erkenntnis. 


1)  Die  kritischen  Ausführungen  Olivis  decken  sich  großenteils 
mit  den  Gründen  der  JNTorainalisten  gegen  die  Spezies:  Aureolus,  Sent., 
II  dist.  XXXV  pars  II  art.  4 ;  Sent.,  I  dist.  IX  art.  1  ;  vgl.  Drei- 
ling,  Der  Konzeptualiaraus  des  Petrus  Aureoli;  Durandus,  Sent.,  II 
dist.  III  quaest.  6;  Occam,  Sent.,  I  dist.  27  quaest.  2;  vgl.  Kugler,  Der 
Begriff  der  Erkenntnis  bei  W.  v.  Ockham ;  tlber  die  genannten  I^omina- 
listen  siehe  Stöckl,  Gesch.  d.  Philos.  des  Mittelalters,  2.  ßd.  S.  9r5ff.; 
Baeumker,  Diechristl.  Philosophie  des  Mittelalters,  S.  419;  auch  Aqua- 
Sparta (Quaestiones  disput.,  p.  2808qq.)  berichtet  über  die  Gegner  der  Spe- 
cies, die  ähnliche  Einvrändo  vorbrachten  wie  Olivi ;  vgl.  Grabmann,  Die 
Erkonntnislehre  des  Aquäsparta,  S.  77;  Heinrich  v.  Gent  leugnet  die 
Species  intelligibiles  (Quodl.,  XIII  q.  11  ;  XI  q.  5;  V  q.  14);  siehe 
über  ihn  de  Wulf,  ifitudes  sur  Henri  de  G and,  p.  SQsqq. ;  nach  Witelo 
können  die  Intelligenzen  ohne  Species  erkennen,  ebenso  können  all- 
gemein abstrakte  Wahrheiten  ohne  sie  erkannt  v^^erden  (Baeumker, 
Witelo,  S.  487  ff.,  550 ff.);  vgl.  Suarez,  De  anima,  lib.  III  eap.  2. 


Die  Verwerfung  der  Spezies  65 

Zweitens:  Wenn  die  Fähigkeit  eine  Spezies  bildete,  so 
wäre  diese  selbst  der  Gegenstand  ihres  Erkennens  und  nicht 
das  Außenobjekt;  oder  aber  wenn  auch  dieses  obendrein  er- 
kannt würde,  so  würde  das  Ding  zweimal  gesehen,  einmal 
in  der  Spezies  und  zweitens  in  sich  selber,  zudem  würde 
es  im  letzten  Fall  ohne  Spezies  erkannt.  Mit  andern  Worten: 
alles  Psychische  ist  bewußtes,  erkanntes  Sein,  ist  Gegen- 
stand und  nicht  Mittel  der  Erkenntnis.  Es  gibt  kein  medium 
quo,  das  selbst  nicht  erkannt  die  Erkenntnis  zu  vermitteln 
hätte,  jedes  Medium  wäre  Medium  quod  d.  h.  erkannter 
Gegenstand  ^). 

Drittens:  Die  Spezies  müßte  einerseits  vom  Objekt  aus- 
gehen, weil  sie  dasselbe  der  Fähigkeit  vergegenwärtigen 
und  diese  in  die  notwendige  Beziehung  zu  demselben 
setzen  soll;  anderseits  müßte  sie  auch  vom  Subjekt  ausgehen, 
weil  sie  den  Erkenntnisakt  vorbereiten  und  einleiten  soll, 
da  sie  als  die  unmittelbare  Formalursache  des  Erkennens 
etwas  Vitales  und  Physisches  sein  müßte.  Dieser  Dualismus 
hebt  aber  die  Einheit  des  Aktes  auf,  von  dem  uns  unser  Be- 
wußtsein berichtet,  wenn  es  das  Aktsein  und  die  Hinwen- 
dung zum  Objekt  in  vollständiger  Durchdringung  erfaßt. 
Noch  mehr:  die  Spezies  würde  eher  auf  Seiten  des  Ob- 
jektes als  des  Subjektes  stehen;  daraus  würde  sich  die 
widersinnige  Behauptung  ergeben,  daß  das  Erkennen  kein 
lebendiger  Vorgang  sei. 

Viertens :  Ebenso  gut  und  schnell  wie  die  Fähigkeit  die 
Spezies,  kann  sie  auch  den  vollständigen  Akt  hervorbringen; 
ein  Gedanke,  der  häufig  wiederkehrt  und  im  Grunde  auf 
die  erste  und  zweite  Erwägung  hinausläuft.  Das  Subjekt 
wird  nämlich  die  Excitatio  obiecti  entweder  bemerken  oder 
nicht.  Bemerkt  es  sie  nicht,  so  nützt  diese  Excitatio  oder 
Species  impressa  für  die  Erkenntnis  des  Gegenstandes  nicht» 
und  stellt  keine  Beziehung  der  Erkenntniskraft  zu  demselben 
her.  Bemerkt  es  sie  aber,  so  kann  es  ebenso  leicht  und  un- 
mittelbar den  Gegenstand  bemerken  wie  diese  Excitatio  selbst,, 
ohne  daß  eine  andere  Excitatio  vorauszugehen  hätte. 

1)  Vgl.  Thomas,  S.  th.,  q.  85  a.  2;  Peech-Frick,  Institutiones  Lo- 
gicae  et  Ontologicae,  n.  489,  512,  597. 

5 


66  7.  Kapitel 

Fünftens:  Die  Spezies  müßte,  wenn  sie  die  Erkenntnis 
einleiten  sollte,  dem  Objekt  ähnlich  sein,  zumal  zwischen 
Ursache  und  Wirkung  stets  eine  Ähnlichkeit  besteht.  Damit 
ist  aber  die  genannte  Spezies  bereits  die  Erkenntnis  und 
Darstellung  des  Objektes  selbst  oder  im  Sinne  Augustins  die 
Spezies  in  acie  intelligentiae  als  Similitudo  obiecti.  Ist  sie 
aber  dem  Gegenstand  nicht  ähnlich,  sondern  nur  ein  Symbol 
oder  irgendwelche  Wirkung  desselben,  so  kann  sie  die  abbil- 
dende Erkenntnis  oder  das  intentionale  Bild  des  Dinges  nicht 
vermitteln. 

Sechstens :  Manche  Vertreter  der  Spezies  —  Olivi  hat  hier 
ganz  bestimmte,  teilweise  sehr  eigenartige,  zu  seiner  Zeit 
aufgestellte  Theorien  im  Auge  —  nehmen  an^  geistige  Enti- 
täten  gingen  vom  Objekt  durch  das  Medium  zum  Erken- 
nenden hin.  Indes  kann  ein  materielles  Medium  unmög- 
lich Träger  von  Immateriellem  sein.  Die  Vertreter  ausge- 
dehnter, körperlicher  Spezies  dagegen  können  nicht  er- 
klären, wie  diese  das  Prinzip  einfacher,  unausgedehnter 
Akte  sein  können,  wie  es  doch  das  Erkennen  ist.  Außerdem 
müßten  unendlich  viele  Spezies  zwischen  dem  in  der  Ferne 
beobachteten  Gegenstand  und  dem  Beobachter  erzeugt  werden, 
was  bei  der  Unmöglichkeit  des  Numerus  infinitus  ausge- 
schlossen ist. 

Siebtens:  Die  Spezies  müßten  der  erkennenden  Fähig- 
keit entweder  untergeordnet  oder  nebengeordnet  d.  h.  ent- 
weder Causa  Instrumentalis  oder  principalis  des  Erkenntnis- 
aktes sein.  Im  ersten  Fall  bestände  die  Aufgabe  der  Causa 
principalis  darin  —  hier  macht  sich  die  öfter  wiederkeh- 
rende, Olivi  eigentümliche,  merkwürdige  Auffassung  von  dem 
in  sich  gewiß  dunklen  Verhältnis  der  Causa  Instrumentalis 
zur  principalis  geltend  — ,  die  Causa  instrumentalis  zur  Tä- 
tigkeit anzuregen,  während  diese  unmittelbar  den  Gegen- 
stand zu  erfassen  hätte,  mithin  ginge  der  Akt  nicht  so  sehr 
von  der  Erkenntniskraft  als  von  der  Spezies  aus.  Im  zweiten 
Fall  aber  erkennt  die  Fähigkeit  ohne  Spezies,  überdies  wäre 
wiederum  die  Spezies  das  Erkenntnisobjekt.  In  jedem  Fall 
hätte  man  zwei  getrennte  Handlungen,  während  doch  das 
Erkennen  eine  einheitliche  ist. 


Die  Verwerfung  der  Spezies  67 

Achtens :  Speziell  ist  die  Aristotelische  Theorie  des  Her- 
ausarbeitens  der  geistigen  Species  aus  den  sinnlichen  Phan- 
tasiebildern durch  den  Intellectus  agens  aus  einem  drei- 
fachen Grund  unmöglich.  Die  Einfachheit  der  Spezies,  die 
von  ihrem  Wesen  untrennbar  ist,  kann  nur  von  derjenigen 
Ursache  ausgehen,  die  die  Spezies  selbst  hervorbringt,  also 
nicht  vom  Phantasma  als  Konprinzip.  Dasselbe  gilt  von  der 
Vitalitas  et  intellectualitas,  wie  bereits  vorhin  gezeigt  wurde. 
Endlich  spricht  die  Autorität  Augustins  dagegen:  wenn  er 
auch  für  die  Sinne  einen  realen  Einfluß  des  Objektes  und 
der  Spezies  annimmt,  so  doch  nicht  für  das  höhere  Erkennen, 
wofür  viele  Stellen  erbracht  werden  ^). 

Bemerkenswert  ist,  daß  Olivi  noch  nicht  aus  der  Öko- 
nomie des  Denkens  argumentiert  und  deshalb  die  Spezies 
verwirft,  wie  es  später  Occam  tat:  species  neutro  modo  dicta 
est  ponenda  in  intellectu,  quia  nunquam  ponenda  est  plu- 
ralitas  sine  necessitate  ^).  Dasselbe  Prinzip  von  der  möglichst 
geringen  Anzahl  der  Realitäten  spricht  Aureolus  aus  und 
verwirft  deshalb  die  Species  oder  „Forma  specularis"  ^).  Vor- 
her hatte  es  bereits  Heinrich  v.  Gent  ausgesprochen^). 

Die  systematische  Bedeutung  dieser  kritischen  Bedenken 
liegt  in  der  kräftigen  Hervorhebung  der  Schwierigkeiten  und 
Dunkelheiten,  die  der  Theorie  der  Spezies  anhaften.  Frei- 
lich wird  Olivi  ihrem  Grundgedanken  nicht  gerecht,  wie 
er  ihn  selbst  im  Anfang  der  Frage  74  klar  wiedergibt. 
Nach  dieser  Aristotelisch-thomistischen  Auffassung,  die  das 
Richtige  treffen  dürfte,  hat  die  Spezies  einmal  die  Aufgabe, 
der  Indifferenz  der  Erkenntniskraft  für  all  ihre  Objekte  die 
Richtung  auf  einen  eindeutig  bestimmten  Gegenstand  zu 
geben,  sodann  vor  allem  die  Funktion,  die  Fähigkeit  in  reale 
Beziehung  zu  demselben  zu  setzen,  die  mit  der  örtlichen 
Gegenwart    noch    nicht   gegeben    ist.     Sehr    gesund  ist   vor 


1)  De.  Trin.,  IX  11,  12;  XI  1,  6,  7;  XII  15;  XV  3,  10-15. 

2)  Sent.,  I  dist.  27,  quaest.  2  K. 

3)  Sent.,  I  dist.  IX  art.  1  ;  Sent.,  II  dist.  XXXY  pars  II  art.   4. 
Dreiling,  Der  Konzeptualismus  des  Aureoli,  S.  205. 

4)  Quodl.,  V  14;  XIII 11;  de  Wulf,  Etudes  sur  Henri  de  Gand,  p. 
91  sqq. 


68  7.  Kapitel 

allem  die  Kritik  Olivis  an  jenen  Formen  der  Spezies-Theorie, 
wie  sie  ihm  bei  manchen  seiner  Vorgänger  und  Zeitgenossen 
entgegentraten.  So  bekämpft  er  unter  anderm  die  Er- 
klärung: quod  species  non  habeat  esse  reale  seu  naturale, 
sed  tantum  intentionale :  quod  in  quolibet  puncto  aeris  sit 
species  simplex  et  spiritualis  (73.  Frage,  2.  Teil).  ^) 

Größer  als  die  systematische  Bedeutung  der  Stellung- 
nahme Olivis  zu  den  Spezies  ist  ihr  geschichtlicher  Wert. 
Die  Ablehnung  und  Ausschaltung  der  Species  impressa  hat  man 
bislang  als  eine  den  Nominalisten  des  vierzehnten  Jahrhunderts 
eigentümliche  Lehre  angesehen.  Occam  ist  ihr  Haupt  Vertreter, 
Durandus  und  Aureolus  waren  ihm  vorausgegangen^).  Nun- 
mehr sehen  wir,  wie  sie  bereits  im  dreizehnten  Jahrhundert 
bodenständig  ist.  Aus  den  Berichten  des  Aquasparta^j  ergab 
sich  das  schon  im  allgemeinen.  Weiterhin  kennt  Witelo  ein  Er- 
kennen ohne  Spezies:  „Die  Vernunft  der  Intelligenzen  be- 
darf zum  Erkennen  nicht  der  voq  außen  aufgenommenen 
Spezies''*).  Ganz  unzweideutig  hat  Heinrich  v.  Gent  die 
Spezies    intelligibiles    verworfen,    während    er    die    Sinnes- 


1)  Vgl.  über  die  Species-Lehre  Roger  Bacoii.  De  multiplicatione 
specierum  und  De  scientia  perspectiva ;  über  ihn  C.  Longwell,  The 
theory  of  raind  of  R.  Baeon,  Straßburger  Dissertation  1908;  E.  Vogl, 
Die  Physik  R.  Bacons,  Erlangen  1906:  Bonaventura,  Itinerarium  mentis 
cap.  2  n.  4:  Grosseteste,  De  lineis,  angulis  et  figuris  (ed.  Baur,  Die 
philosophischen  Werke  des  Grosseteste) ;  über  ihn  Baur,  Die  Philo- 
sophie des  Grossoteste,  S.  99  f. ;  über  Alhazen  siehe  Bauer,  Die  Psycho- 
logie Alhazens,  S.  27  f. :  über  Witelo  Baeuraker,  S.  476ff.,  617;  Hein- 
rieh  V.  Gent,  Quodlib.  IV  21  :  über  ihn  de  Wulf,  fitudes  zur  Henri 
de  Gand,  p.  78  sq.  Heinrich  v.  Gent  erklärte  die  species  sensibiles 
in  folgender  Weise  :  notanduni  circa  progressum  hunc  notitiae,  quod 
i^ensibile,  puta  color,  primum  esse  naturale  habet  in  obiecto  suo  et  est 
in  potentia  activa,  ut  intentionaliter  sibi  simile  generet  in  medio  et  a 
medio  in  organo  visus,  secundura  tarnen  actum  lurainis  .  .  .,  quo  (lumino) 
praesente  color  facit  speciem  impressam  in  medio  sibi  contiguo,  quae 
continue  generatur  et  diffunditur  .  .  .  per  totum  medium  usque  ad 
Organum  visus,  in  quo  species  recipitur  ab  aere  sibi  contiguo  et  for- 
matur  per  ipaam  visio  (Quodlib..  IV  21);  vgl.  Suarez,  De  anima,  lib. 
III  cap.  2. 

2)  Vgl.  die  Anmerkung  im  Anfang  dieses  Kapitels  S.  64. 

3)  Quaest.  disp.,  q.  3;  vgl.  Grabmann.  S.  77. 

4)  Baeumker,  Witelo,  S.  490. 


Die  Verwerfung  der  Spezies 


tätigkeit  durch  Spezies,  die  vom  äußeren  Objekt  ausgehen, 
bewirkt  sein  läßt  *).  Olivi  scheint  nun  der  erste  uns  bekannte 
Scholastiker  des  dreizehnten  Jahrhunderts  zu  sein,  der  jeg- 
liche Art  von  Spezies,  die  intelligibiles  und  sensibiles,  ver- 
wirft. Indes  legen  seine  überaus  reichen  Ausführungen  und 
verschiedenartigen  Gesichtspunkte  den  Schluß  nahe,  daß  er 
auch  aus  andern  Autoren  geschöpft  hat. 

Am  Schluß  dieses  Kapitels  mögen  wieder  einige  Beleg- 
stellen folgen. 

Superflue  ponitur  eam  generare,  quia  qua  ratione  per 
suam  nudam  essentiam  poterit  generare  hanc  speciem,  eadem 
ratione  poterit  per  solam  se  ipsam  generare  actum  (q.  74, 
4.  Punkt).  Species  non  exigitur  ad  repraesentandum  ob- 
iectum  et  tamen  hoc  est  illud,  pro  quo  magis  videbatur  exigi. 
Quod  autem  ad  hoc  non  exigatur,  probatur.  Primo,  quia 
obiectum  praesens  aspectui  in  ipsum  converso  et  intento 
sufficienter  se  praesentat  per  se  ipsum,  immo  et  melius 
quam  per  aliquam  speciem  creatam,  ab  eins  solida  entitate 
et  propria  veritate  deficientem,  Secundo  frustra  ponitur 
species  repraesentans  obiectum  aspectui,  nisi  aspectus  in- 
tendat  in  ipsam,  intendere  autem  in  ipsam  est  idem  quod 
aspicere  eam  tamquam  obiectum  primum,  quod  respectu 
actus  cognitivi  potius  habet  rationem  termini  seu  termina- 
tivi  quam  principii  effectivi.  Tertio,  quia  aut  aspectus  sie 
intendit  in  speciem,  quod  non  transeat  ultra  ad  aspiciendum 
obiectum  aut  sie,  quod  transeat  altra.  Si  primo  modo,  ergo 
res  non  videbitur  in  se,  sed  solum  videbitur  eins  imago,  ac- 
si  esset  ipsa  res  .  .  .;  si  secundo  modo,  scilicet  quod  tran- 
seat ultra,  ergo  post  inspectionem  speciei  inspiciet  obiectum 
adhuc  in  se  ipso  et  sie  cognoscet  ipsum  duobus  modis  .  .  . 
Quarte,  quia  ex  quo  haec  species  ponitur  in  acie  tamquam 
ipsam  informans  et  tamquam  radicale  principium  actus  cog- 
nitivi, ergo  quando  acies  convertet  suum  aspectum  ad  eam, 
reflectet  se  potius  ad  se  et  ad  sua  interiora  quam  protendat 
se  versus  extrinsecum  obiectum;  ergo  per  hoc  potius  aver- 

1)  Quodlib.,  III  q.  11;  XI  q.  5;  Vq.  14;  siehe  de  Wulf,  Müde» 
zur  Honri  de  Grand,  p.  269  sqq.;  die  Species  sensibiles  behandelt  Hein- 
rich im  Quodlib.,  lY  q.  21 ;  siehe  de  Wulf,  p.  78  sq. 


70  7.  Kapitel 

tetur  a    videndo    obiectum  quam    ducatur   ad  videndum  ob- 
iectum  (q.  74,  5.  Punkt). 

Q.  58  zeigt  im  3.  Punkt  der  Lösung  der  dreizehnten 
Objektion,  daß  aus  der  Potentia  und  Species  keine  Ein- 
heit hervorgehen  kann:  quia  cum  actus  intelligendi  et 
sentiendi  sint  simplices  et  ad  minus  non  sint  compositi  ex 
essentiis  diversarum  specierum  et  generum  et  multo  minus 
sint  compositi  ex  diversis  actionibus,  cum  actio  non  sit  tale 
ens,  quod  cum  alia  actione  possit  proprio  concurrere  ad 
constituendam  unam  tertiam  essentiam,  non  possint  autem 
esse  partim  a  potentia  et  partim  a  speciebus,  quin  haec  omnia 
contingant,  quia  tunc  unam  partem  accipient  a  potentia  et 
aliam  a  speciebus.  Porte  dicetur,  quod  species  exigitur 
tamquam  quaedam  dispositio  ipsius  potentiae  .  .  .  aut  poterit 
dici,  quod  species  exigitur  ad  repraesentandum  obiectum  .  .  . 
aut  forte  dicetur,  quod  potentia  habet  rationem  principalis 
seu  remoti  agentis  .  .  .,  species  vero  rationem  agentis  proximi 
et  immediati.  Sed  contra  primum  ...  in  viritutibus  non  exi- 
gitur ad  aliud  dispositio  nisi  ad  coaptandum  oas  ad  agendum 
debite  et  expedite  .  .  .,  sed  species  non  dicit  tale,  cum  non 
dicat  nisi  solam  similitudinem  obiecti.  Secundum  improbant 
sie:  si  species  non  exigitur  ad  producendum  actum  sed  solum 
ad  repraesentandum  obiectum,  ergo  secundum  hoc  ipsa  non 
erit  aliquo  modo  principium  effectivum  ipsius  actus  et  ita 
sola« potentia  erit  totale  principium  eins;  sed  principio  effec- 
tivo  totali  praesente  cum  patienti  et  obiecto  semper  potest 
sequi  actus,  obiectum  autem  tunc  est  praesens  potentiae, 
quando  potentia  habet  aspectum  praesentialiter  conversum 
et  fixum  super  ipsum.  Tertium  autem  sie  improbant:  quia 
cum  omne  principalo  agens  habeat  actionem  propriam,  per 
quam  movet  agens  instrumentale  .  .  .,  tunc  oportebit,  quod 
potentia,  quae  hie  ponitur  pro  agente  principali,  habeat  ali- 
quam  actionem,  per  quam  movet  ipsam  speciem  ad  actionem 
immediate  eliciendam  .  .  .;  haec  autem  esse  non  possunt, 
quia  primus  et  proprius  actus  potentiae  est  apprehensio 
seu  cognitio.  Sextum  autem,  quod  sc.  potentiae  non  possint 
excitari  ab  obiectis  ad  generandum  huiusmodi  species  .  .  ., 
sie  probant:  aut  anima  advertit  et  sentit  istam  excitationem 


Die  Verwerfung  der  Spezies  71 

ant  non;  si  non  sentit,  non  videtur,  quod  per  hoc  ad  agen- 
dum  excitetur;  si  autem  sentit  et  advertit,  ergo  prius  appre- 
hendit  huiusmodi  excitationem  quam  ipsum  obiectum,  et  etiam 
sequitur,  quod  per  se  absque  alia  exoitatione  fuerit  potens 
ad  generandum  in  se  actum,  per  quetiai  adverteret  et  sentiret 
huiusmodi  excitationem. . .  Praeterea  aut  una  istarum  yirtutum 
esset  principalis  et  altera  instrumentalis  aut  ambae  essent 
principales;  neutro  autem  modo  videtur  hoc  posse  fieri,  quia 
tunc  oportebit,  quod  ibi  sint  duae  actiones  diversae,  quarum 
una  sit  immediate  a  principali  virtute,  altera  vero  ab  in- 
strumentali. 

Gegen  die  Irradiatio  phantasmatum  seu  formarum  corpo- 
ralium  per  intellectum  agentem,  um  die  Species  impressae 
in  intellectu  possibili  hervorzurufen,  wird  in  der  Widerlegung 
der  9.  Supprobatio  der  13.  Objektion  Folgendes  ausgeführt, 
wobei  Olivis  Theorie  vom  Zusammenwirken  von  der  Causa 
instrumentalis  und  principalis  klar  hervortritt:  quaerunt  isti, 
an  species  intellectuales  generentur  ex  istis  formis  sicut  ex 
materia  aut  sicut  ex  causa  efficiente.  Im  ersten  Fall  würde 
folgen,  quod  formae  corporales  seu  imaginariae  fierent  ma- 
teria specierum  ex  se  [eis]  genitarum  et  quod  essent  in 
eadem  potentia  intellectuali  cum  his.  Im  andern  Fall  müßte 
die  Irradiatio  intellectus  agentis  mit  den  Phantasmata  zu- 
sammenarbeiten aut  per  modum  principalis  agentis  aut  per 
modum  instrumenti  aut  per  modum  dispositionis  determi- 
nantis  ipsas  formas  ad  suos  actus.  Si  per  modum  principalis 
agentis,  ergo  cooperabitur  ad  hoc  movendo  ipsas  formas  ad 
productionem  huiusmodi  specierum.  Quod  quanta  et  qualia 
inconvenientia  in  se  implicet,  satis  de  se  patet.  Si  per  modum 
instrumentalis  agentis,  ergo  ipsae  species  immediate  produ- 
cuntur  ab  ea,  ab  ipsis  formis  autem  mediate.  Et  tunc  opor- 
tebit, quod  moveatur  ab  ipsis  formis  sicut  instrumentum 
movetur  a  causa  principali.  .  .  Si  vero  per  modum  dispo- 
sitionis determinantis  seu  sublimantis  ipsas  formas  ad  suos 
actus,  tunc  huiusmodi  lumen  irradiatum  erit  magis  determi- 
natum  et  appropriatum  ad  productionem  huiusmodi  specierum 
quam  sint  ipsae  formae. 


8.  Kapitel. 

Das  virtuelle  Berühren  des  Gegenstandes. 

Wenn  nach  dem  Gesagten  das  Objekt  weder  unmittel- 
bar noch  durch  Vermittlung  von  Species  ursächlich  bestim- 
mend in  den  Erkenntnisprozeß  eingreift,  dann  muß  alle 
Wirksamkeit  vom  Subjekt  ausgehen.  Im  Gegensatz  zu 
Aristoteles^)  und  seinen  Anhängern,  die  das  Passive  der 
Erkenntnisfähigkeiten  und  namentlich  der  sinnlichen  stark 
betonen,  hebt  Olivi  in  Übereinstimmung  mit  Augustin  ^)  das 
Aktive  derselben  hervor.  Rein  psychologisch  und  nicht 
kritisch  genommen,  erinnert  die  Aktivität  des  mittelalterlichen 
Denkers  unwillkürlich  an  die  Spontaneität  Kants. 

Es  entsteht  nun  die  nähere  Frage:  wie  vollzieht  sich 
nach  Olivi  die  Verbindung  des  Objektes  mit  dem  Subjekt? 
Natürlich  muß  auch  er  irgend  ein  Berühren  des  einen 
mit  dem  andern  fordern.  Entsprechend  seiner  Erklärung  des 
Erkennens,  in  Anknüpfung  an  die  damalige  Platonisch- 
augustinische  Emissionstheorie  des  Sehens  und  womöglich 
auch  befruchtet  durch  die  neuplatonischen  Anschauungen 
von  der  geistigen  Bestrahlung  (Irradiatioj  und  Belichtung 
der  Gegenstände  durch  den  erkennenden  Geist  kommt  Olivi 
zu  einer  merkwürdigen,  bislang  nicht  bekannten  Theorie. 
An  Stelle  des  Aussendens  von  Strahlen,  wie  es  die  Platoniker 
wollten,  oder  des  physischen  Herausgehens  der  Erkenntnis- 
kraft, wie  es  Augustin  annahm,  setzt  Olivi  ein  virtuelles 
Austreten  derselben,  die  vom  Subjekt  bis  zum  fernsten  Ob- 
jekt reicht.  Im  Grunde  ist  diese  ,  Erklärung"  bloß  eine 
Umschreibung    der    Tatsache    des    Erkennens    selber,    eine 

1)  Dem  aina,  II  4,  5,  12;  III  4. 

2)  Besonders  de  Trin.,  lib.  IX  sqq. ;  vgl.  Baeumker,  Witelo,  4dOff. 


Das  virtuelle  Berühren  des  Gegenstandes  73 

wissenschaftliche  Klarstellung  ist  sie  nicht.     Beachtenswert 
ist   bloß   das   methodische    Verfahren,    mit  dem  diese  aprio- 
rische, von  vornherein  feststehende  Konstruktion  nachträglich 
mit  einem  relativ  bedeutenden  Aufwand  von  Tatsachen  gestützt 
wird.    Dieses  empirische  Material  ist  durchgängig  der  Optik 
entlehnt,  wie  sie  Olivi  vor  allem  durch  Alhazen  —  er  zitiert 
sie  als   die  Perspectiva  Arabum  —  zur  Verfügung    stand*), 
örosseteste,  Pecham,  Witelo,  Roger  Bacon  und  Dietrich  v.  Frei- 
berg 2)  haben  reichlich  aus  ihr  geschöpft.    Hat  Olivi  auch  in 
keiner  Weise   systematisch  gearbeitet,  wie   etwa  Pecham  in 
seiner   Perspectiva   communis,   so   zeigt    er  immerhin   einen 
offenen   Blick   und   eine   wirkliche   Hochschätzung   der   Tat 
Sachen;    ein  wissenschaftlicher  Zug,    der  bei  den  Franziska 
nern   des    13.  Jahrhunderts   mehrfach   zu    beobachten    ist  3) 
Um   so    mehr  muß   die    gewaltsame  Einordnung    dieses    Be 
Obachtungsmaterials  in   seine  verunglückte   apriorische  Auf 
fassung    vom    Verhältnis    des    erkennenden    Subjektes   zum 
Objekt  auffallen. 

Die  ganze  Frage  73  ist  der  Darstellung  dieses  Lehr- 
stückes gewidmet.  Schon  die  Überschrift  derselben  formuliert 
scharf  das  Thema  und  weist  auf  die  Beziehungen  zur  Plato- 
nisch-augustinischen  Emissionstheorie  hin:  an  aliqua  virtus 
cognitiva  .  .  .  secundum  suam  essentiam  exterius  non  emissa 
possit  ab  extrinseco  et  distanti  medio  vel  obiecto  absque  eorum 
influxu  mutari;  per  mutationem  aut  passionem  intelligo  pro- 
tensionem  sui  ad  extra  et  protensionera  pertransitivam, 
percussivam  incessus  vel  virtualis  radii  aut  reflexionem  a 
speculo  vel  specularibus  vel  diverberationem  aut  resisten- 
tiam  vel  prohibitionem  vel  fixionem  aut  terminationem  eins 
in    obiecto.       Die    Untersuchung    geht,    wie    besonders    der 

1)  Fr.  Rlsner,  Alhazen,  Thesaurus  Optlcae. 

2)  Vgl.  die  Anmerkungen  im  1.  Kap.  S.  7. 

3)  Außer  bei  den  genannten  Pecham  und  Roger  Bacon  auch  bei 
Bartholomaeus  Anglicus.  Über  die  Franziskaner  siehe  H.  Felder,  Ge- 
schichte d.  Wissenschaf tl.  Studien  im  Franziskanerorden,  Freiburg  Br. 
1904.  Grosseteate,  der  sich  viel  mit  mathematischen  und  empirischen 
Wissenschaften  beschäftigte  (siehe  Baur,  Die  Philosophie  des  Robert 
Grosseteste),  erteilte  selbst  den  eben  in  England  angekommenen  Fran- 
ziskanern Unterricht  (Felder,  260  ff.). 


74  8.  Kapitel 

weitere  Verlauf  zeigt,  auf  alle  Erkenntniskrftfte.  Nach  ener- 
gischer Zurückweisung  der  Emissioustheorie  wird  das  eine 
Element  in  der  Augustinischen  Erklärung  aufgegriffen  und 
weitergeführt:  potentiae  animae  attingunt  per  virtualem 
aspectum  obiecta,  ubi  realiter  seu  secundum  essentiam  suam 
non  sunt  .  .  .,  eine  Theorie,  die  Olivi  tamquam  internae  ex- 
perientiae  consonam  et  multiplici  rationi  innixam  zu  begründen 
sucht.  Der  Beweisgang  zerfällt  in  zwei  Teile:  primo  iste 
modus  possibilis,  secundo  necessarius  est. 

Einleitend  wird  zunächst  in  anschaulicher,  geistreicher 
Weise  gezeigt,  was  der  schon  so  oft  erwähnte  Aspectus  ist 
und  durch  welche  Faktoren  seine  Stärke  und  sein  Umfang 
bedingt  ist.  Daran  schließt  sich  die  Erklärung,  quomodo 
praefatus  aspectus  transeat  vel  figatur  aut  frangatur  vel 
reflectatur,  ubi  simpliciter  et  absolute  non  est;  im  Grunde 
ist  sie  eine  rein  tautologische  Wortumschreibung.  Zusammen- 
fassend heißt  es  dann:  si  igitur  quaeras,  in  quo  sit  mutatio 
huius  aspectus  tamquam  in  subiecto,  patet,  quod  est  in 
potentia  et  in  eins  organo;  si  autem  quaeras,  in  quo  sit 
tamquam  in  termino  formali  et  intrinseco,  patet,  quod  est 
in  ipso  aspectu  .  .  . ;  si  vero  quaeras,  in  quo  sit  tamquam 
in  obiectivo  termino,  patet,  quod  in  obiectis  .  .  .;  si  autem 
quaeras,  a  quo  sit  tamquam  a  causa  efficiente,  patet,  quod 
vel  a  voluntate  potentias  movente  vel  aliquando  per  natu- 
ralem coUigantiam  fit  ab  aliquo  motu  vel  mutatione  sui 
organi  vel  totius  corporis;  si  vero  quaeras,  a  quo  sit  tam- 
quam a  terminativo  et  per  modum  terminativi  cooperativi, 
patet,  quia  sie  est  ab  obiectis. 

Im  folgenden  werden  die  Erscheinungen  der  Eeflexion 
und  der  Brechung  der  Lichtstrahlen  und  der  Schallwellen, 
also  die  Tatsachen  der  Spiegelung  und  des  Echos,  herbei- 
gezogen und  an  ihnen,  stets  im  Hinblick  auf  die  Grundthese 
vom  virtualis  aspectus  potentiae  cognitivae,  ubi  realiter  non 
est,  gezeigt,  daß  sie  dort  eine  Wirkung  ausüben  und  eine 
Veränderung  erleiden,  z.  B.  beim  Übergang  in  ein  Medium  von 
größerer  oder  geringerer  Dichte,  wo  sie  physisch  nicht  sind: 
attendendum,  quomodo  aspectus  transeat,  figatur,  frangatur, 
reflectatur,  ubi  simpliciter  non  est.  Diese  Medien,  z.  B.  Luft  und 


Das  virtuelle  Berühren  des  Gegenstandes  75 

Wasser  sind  nicht  die  Causa  efficiens  der  Brechung,  sondern 
bloß  die  Termini  non  pervii.  Aus  diesem  Gedanken  heraus 
wird  weiterhin  ausführlich  gezeigt,  daß  beim  Echo  nur  ein 
und  dieselbe  Stimme  gehört  wird:  vox  clamantis  vel  cam- 
panae  quasi  a  montibus  resonans,  quae  dicitur  eco,  non  est 
alia  vox  a  prima  voce  clamantis  vel  a  prima  voce  campanae. 
Die  „Tatsache"  sodann,  daß  der  Aspectus  in  instanti  ab  ob- 
iecto  ad  oculum  retrahitur,  wie  es  bei  der  willkürlichen 
Schließung  der  Augen  oder  durch  das  Dazwischentreten 
eines  Hindernisses,  z.B.  der  Wolken  gegen  die  Sonne,  er- 
folgt, soll  aufs  neue  die  Richtigkeit  des  philosophischen 
Satzes  beweisen,  daß  der  Aspectus  oder  das  Erkennen  ein 
virtuelles  Austreten  und  Herübergehen  der  Erkenntniskraft 
zum  Objekt,  ein  Betasten  desselben  im  Sinn  der  Neuplatoniker 
ist,  ohne  daß  außerhalb  des  erkennenden  Subjektes  etwas  be- 
wirkt würde.  Das  Ganze  ist  eine  merkwürdig  vertrakte  Kon- 
struktion auf  Grund  großenteils  richtiger  Beobachtungstat- 
sachen. Patet  igitur,  schließt  mit  großer  Sicherheit  der  erste 
Teil,  ex  praemissis,  quod  modus  iste  nihil  continet  impossibile, 
quin  potius  sequitur  ubique  internum  et  assiduum  exprimentum. 

Der  zweite  Teil  geht  weiter  und  sucht  die  Notwendig- 
keit dieser  Erklärung  durch  Ausschließung  anderer  Annahmen 
nachzuweisen.  So  wird  aus  der  Unmöglichkeit  der  Species- 
theorie  für  die  äußern  Sinne  gefolgert:  quod  cognitivi  aspectus 
terminentur  in  suis  obiectis  et  hoc  diversimode  absque  eorura 
influxu.  Umgekehrt  muß  die  eingehend  herbeigezogene 
Anatomie  des  Auges  als  neue  Bestätigung  dieser  Auffassung 
dienen:  sein  ganzer  Bau  hat  den  einen  Zweck,  auf  alle 
Weise  den  Aspectus  zu  erleichtern  und  zu  vervollkommnen. 

Die  Erkenntnis  der  reinen  Geister  endlich  ist  nur  in 
dieser  Annahme  erklärlich.  Angeborene  Ideen  würden  die 
Erkenntnis  fernliegender  Gegenstände  nicht  ermöglichen  — 
bereits  in  Frage  36,  wo  die  Engellehre  behandelt  wird, 
werden  diese  gegen  Thomas  abgelehnt  — ;  ein  Einfluß  des 
Sinnesobjektes  ist  ebenfalls  ausgeschlossen;  anderseits  steht 
das  Innere  der  reinen  Geister  nicht  ohne  weiteres  und 
gegen  ihren  Willen  dem  Blick  anderer  Geister  offen.  Mithin 
bleibt  die  gegebene  Erklärung  als  die  einzig  mögliche  übrig. 


9.  Kapitel. 

Die  Colligantia  der  Seelenkräfte. 

Dieses  Lehrstück  ist  entschieden  das  sachlich  wertvollste 
in  der  ganzen  Erkenntnislehre  Olivis.  Es  dürfte  zu  dem 
Besten  zählen,  was  geschichtlich  zur  Lösung  des  in  Frage 
stehenden  Problems  beigetragen  wurde.  Seine  spekula- 
tive Bedeutung  tritt  erst  dann  voll  und  ganz  hervor,  wenn 
man  die  Schwierigkeit  kritisch  durchdenkt,  die  in  dem  Tho- 
mistischen  Begriff  der  Causalitas  instrumentalis  phantas- 
matis  in  intellectum  liegt  ^).  Suarez,  der  seinen  speku- 
lativen Ausführungen  ausführliche,  auf  reichem  positiven 
Wissen  beruhende  geschichtliche  Überblicke  vorauszuschicken 
pflegt 2)  und  den  Schopenhauer^)  darum  das  „wahre  Kom- 
pendio  der  Scholastik"  nennt,  verfolgt  die  Stellungnahme 
späterer  Denker  zu  der  Lösung  des  Aquinaten*):  Durandus, 
Isaac  Narbonensis,  Caietan,  Javellus,  Capreolus^  Perrarius, 
Apollinaris,  Jandunus,  Aegidius  v.  Eom  werden  der  Reihe 
nach  aufgezählt.  Die  spätere  Entwicklung,  namentlich  das 
Zurückgreifen  auf  die  Colligantia  oder  Sympathia  seitens 
eines  so  erstklassigen  Denkers,  wie  es  Suarez^)  ist,  bestä- 
tigt dieses  Werturteil. 


1)  S.  th.,  q.  84  a.  7;  q.  85  a.  1,  2. 

2)  Vgl-  Grabmann,  Die  Disputationes  metaphysicae  des  Erana 
Suarez. 

3)  Über  die  vierfache  Wurzel  des  SatzeB  vom  zureichenden 
Grunde,  2.  Aufl.,  2.  Kap.  §  6  (Sämtl.  Werke  herauegeg.  von  P.  Deussen, 
München  1912,  3.  Bd.  S.  146). 

4)  De  anima,  IIb.  IV  cap.  2  n.  3 — 7. 

5)  De  anima,  lib.  IV  cap.  2  n.  7  sqq.;  vgl.  8.  86  ff.,  wo  noch 
andere  Anhänger  der  ColIigantia*Theorie  aufgezählt  werden. 


Die  OolUgantia  der  Seelenkräfte  77 

In  Olivis  Erkenntnislehre  hat  diese  CoUigantia  eine  zen- 
trale Stellung.  Sie  macht  es  ihm  vor  allem  möglich,  trotz 
der  Verwerfung  der  Aristotelischen  Spezies  und  des  Au- 
gustinischen  Schauens  in  den  Rationes  aeternae,  den  Grund- 
gedanken der  Hochscholastik,  wie  er  in  den  Borghese-Hand- 
schriften  durchgeführt  wird,  auch  später  im  Vaticanus  fest- 
zuhalten: das  Erkennen  nimmt  den  Weg  von  unten  nach 
oben,  beginnt  mit  der  Einzelerfahrung  und  geht  von  da 
unter  Anlehnung  an  die  sinnlichen  Vorstellungen  zur 
Abstraktion  der  allgemeinen  und  notwendigen  Wahr- 
heiten über.  Die  Vermittlung  vom  Niedern  zum  Höhern, 
von  den  Sinnen  zum  Geistigen  bildet  die  CoUigantia;  die 
durch  sie  bedingte  Tätigkeit  leistet  zum  Teil  das,  was  bei 
Aristoteles  ^)  und  Thomas  ^)  die  durch  den  Intellectus  agens 
aus  dem  Phantasmata  herausgearbeitete  Species  impressa 
leistet.  Wie  gemäß  diesen  Denkern  erst  die  Species  im- 
pressa die  letzte  Vorbedingung  für  die  Tätigkeit  des  In- 
tellectus possibilis  schafft,  d.  h.  ihn  in  actu  primo  completo 
versetzt,  so  tut  es  nach  Olivi  die  CoUigantia,  die,  wie  wir 
gleich  sehen  werden,  einer  Impressio  oder  einem  Impulsus 
der  niederen  Erkenntniskraft  auf  die  höhere    gleichkommt. 

Der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  halb  er  sollen  hier,  um- 
gekehrt zu  der  sonst  befolgten  Ordnung,  an  erster  Stelle  die 
Darlegungen  Olivis  selbst,  wie  er  sie  in  Frage  72  gibt,  ge- 
setzt werden,  an  zweiter  Stelle  mögen  dann  die  darin 
steckenden  allgemeinenGesiehtspunkte  herausgehe  ben  werden. 

Im  ersten  Praenotamentum,  das  de  vario  modo  agendi 
et  patiendi  betitelt  ist  —  was  wohl  zu  beachten  ist  — ,  wird 
ganz  allgemein,  ohne  besondere  Rtlcksichtnahme  auf  die 
CoUigantia  potentiarum,  ausgeführt:  tertius  modus  estjquando 
patiens  non  subicitur  activae  virtuti  agentis  directe  et  im- 
mediate,  sed  solum  oblique  et  mediate  nee  subicitur  ex  se 
solo  absolute  sumpto,  sed  solum  ex  hoc,  quod  est  alteri  pa- 
tienti  firmiter  et  fortiter  colligatum.  Es  folgen  einige  bemer- 
kenswerte Beispiele:  ignis  naturaliter  tendens  sursum,  quando 

1)  D©  aQima,  IH  7,  8. 

2)  S.  th.,  q.  85  a.  1,  2;  vgl.  Kleutgen,  Die  Philosophie  der  Vor- 
zeit, 1.  Bd.,  S.  103  ff. 


78  9.  Kapitel 

est  imbibitus  ponderosae  naturae  ferri  Tel  carbonis,  tendit 
cum  eis  deorsum  tamquam  motus  a  graTitate  eorum  propter 
inseparabilem  colligantiam  sui  ad  illa. 

Unmittelbar  darauf  kommt  der  bedeutsame  Vergleich 
mit  der  Eductio  formae  de  potentia  materiae:  iste  modus 
agendi  et  patiendi  quoad  quid  assimilatur  eductioni  form ar um 
de  materia  factae  ab  impressione  prius  naturaliter  influxa 
eidem  materiae  ab  aliquo  agente.  Illa  enim  impressio,  cum 
sit  quaedam  actio  vel  passio,  non  se  habet  ad  subsequentem 
eductionem  formae  de  materia,  sicut  se  habebat  influxiva 
vis  agentis  ad  influxum  ipsius  impressionis.  Illa  enim  erat 
directe  conversa  super  subiectum  recipiens  eins  influxum 
et  ille  influxus  directe  manat  et  fluit  ab  illa  vi  agentis; 
eductio  autem  formae  de  materia  non  fluit  sie  ab  ipsa  im- 
pressione nee  impressio  dirigit  se  ad  subiectum  eductionis, 
ut  influat  talem  eductionem  in  ipsuni;  immo  potius  ipsa  im- 
pressio est  quaedam  directio  et  impulsio  seu  inclinatio  eius- 
dem  subiecti  seu  materiae  ad  finalem  terminum  ipsius  educ- 
tionis, iuxta  quod  sagitta  a  sagittante  impulsa  est  ipso  im- 
pulsu  formaliter  et  virtualiter  inclinata  ad  illum  locum,  ad 
quem  localis  motus  ipsam  subsequens  finaliter  currit  tam- 
quam ad  terminum  suum.  Zum  Verständnis  dieses  sehr  be- 
zeichnenden Vergleiches  ist  wohl  zu  beachten,  daß  Olivi 
die  sog.  gewaltsame  Bewegung  der  Aristoteliker  ganz  modern 
im  Sinne  des  Trägheitsgesetzes  erklärt,  gemäß  welchem  sich 
der  bewegte  Beweger  in  kraft  der  von  außen  erhaltenen  Bewe- 
gungsgröße, ohne  neue  Einwirkung  von  außen,  weiter  bewegt  \). 

Dieser  Modus  agendi  et  patiendi  bei  der  Eductio  formae 
de  potentia  materiae,  durch  den  das  Wesen  der  Colligantia 
bezw.  die  durch  sie  bedingte  Wirkungsweise  beleuchtet 
werden  soll,  wird  in  folgendem  genauer  bestimmt.  Voraus- 
geschickt wird  noch  eine  Bemerkung,  die  unmittelbar 
auf  die  Colligantia  geht:  sciendum  tamen,  quod  sicut  in 
rebus  ad  invicem  colligatis  est  aliquando  differentia  su- 
perioritatis,  qua  unum  est  superius  altere,  sie  et  in  motibus 
seu    passionibus    ex  tali  colligantia    causatis   est  differentia; 

1)  Jansen,  Olivi  der  älteste  scholastische  Vertreter  des  heutigen 
Bewegungsbegriffs. 


Die  CoUigantia  der  Seelenkräfte  79 

quia  a  motu  facto  in  superiori  causatur  motus  in  inferiori 
quasi  descendendo,  ab  inferiori  vero  in  superius  quasi 
ascendendo.  Et  ideo  motus  superioris  non  sie  subiacet  motui 
inferioris,  quando  causatur  ab  eo,  sicut  motus  inferioris  sub- 
iacet superiori,  quando  causatur  ab  eo. 

Noch  wichtiger  ist  die  folgende  genauere  Bestimmung 
der  Causalitas  bei  der  Eductio  formae:  sciendum  etiam,  quod 
mobilitas  materiae  ad  motum  ex  ea  educendum  plus  accedit  ad 
rationem  activi  quam  sola  susceptibilitas  materiae  ad  sus- 
cipiendum  influxum  alicuius  influentis  in  eam.  lila  enim 
mobilitas,  quae  est  ad  formam  et  motum  connaturalem  mate- 
riae mobilis,  plus  accedit  ad  rationem  activi  quam  mobilitas 
ad  motum  violentum  et  ad  formam  artificialem.  Et  ideo 
mobile  plus  dicitur  cooperari  in  suo  motu  sibi  connaturali 
quam  in  violento  et  sibi  innaturali,  quia  naturalis  ordo  mo- 
bilis ad  talem  motum  non  modicum  iuvat  ad  factionem  eins ; 
sicut  etiam  mobile  plus  cooperatur  in  quocunque  motu  etiam 
violento  quam  in  suscipiendo  influxum  ab  exteriori  agente 
fluentem,  quia  plus  est  habere  in  se  naturam  talem,  ex  qua 
talis  actio  possit  in  ipsa  ex  ipsa  educi  quam  qnod  solum 
possit  in  ipsa  suscipi,  non  autem  ex  ipsa  educi. 

Nachdem  so  ganz  allgemein  die  durch  die  CoUigantia 
verschiedener  Dinge  und  Kräfte  bedingte  Wirkungsweise  im 
ersten  Praenotamentum  der  q.  72  beschrieben  ist,  wird  im 
dritten  Hauptteil  derselben  gezeigt,  wie  durch  diese  CoUi- 
gantia ein  Übergang  oder  eine  Einwirkung  vom  Körper  auf 
die  Seele  erfolgen  kann.  Zuerst  wird  eine  vierfache  Art 
dieses  Übergehens  der  Tätigkeit  unterschieden,  der  anhangs- 
weise eine  fünfte  beigefügt  wird.  Gerade  bei  der  Darstel- 
lung dieser  letzteren  werden  die  feinsten  und  tiefsinnig- 
sten Bemerkungen  über  die  durch  die  CoUigantia  bedingte 
Wirkungsweise  gemacht.  Den  Höhepunkt  der  Darlegungen 
bildet  letztlich  die  Begründung  der  CoUigantia  durch  den 
Hinweis  auf  die  Unio  formalis  des  Menschen  aus  Leib  und 
Seele,  als  deren  letztes  Einigungsband  auch  hier  wieder  — 
wie  bereits  im  vierten  Kapitel  angedeutet  wurde  —  die 
Materia  spiritualis  betrachtet  wird. 

Die    vier  Arten   des  Überganges    vom  Körper    auf    die 


80  9.  Kapitel 

Seele  und  umgekehrt  sind:  primo  quoad  modum  existendi^ 
secundo  quoad  habitum.  tertio  (juoad  actualem  aspectum 
potentiarum  in  obiecta,  quarto  quoad  localem  mutationem 
seu  motum.  Sie  tragen  zur  Klarstellung  des  fraglichen  Be- 
griffes kaum  etwas  bei,  die  konkrete  Ausführung  bezw.  die 
Beispiele  sind  belanglos  oder  gar  zweifelhafter  Natur.  Um 
so  bedeutsamer  ist  der  Inhalt  der  fünften  Art :  quidam  autem 
addunt  alium  modum,  scilicet  cum  actio  unius  potentiae  se- 
quitur  ad  actionem  alterius,  ut  cum  ad  actum  videndi  se- 
quitur  in  sensu  communi  actus  iudicandi  et  in  intellectu  actus 
intelligendi  seu  advertendi  aut  cum  ad  delectationem  appe- 
titus  inferioris  sequitur  delectatio  in  superiori.  Sed  secun- 
dum  alios  actio  unius  potentiae  nunquam  immediate  causa- 
tur  ab  alia,  quia  tunc  non  esset  actio,  sed  tantum  passio 
vel  motio  illius  potentiae.  in  qua  ab  altera  potentia  et  ab 
eius  actione  fieret,  iuxta  quod  conversio  visus  vel  intellectus 
ad  sua  obiecta  fit  a  voluntate  ....  Poterit  etiam  ultra  hoc 
dici,  quod  actionem  superioris  potentiae  praecedit  quaedam 
attractiva  passio  causata  ab  actu  potentiae  inferioris ;  quando 
autem  inferior  movetur  a  superiori,  tunc  actionem  inferioris 
naturaliter  praeit  quaedam  impulsiva  passio  et  impressio 
facta  ab  actu  potentiae  superioris  .  .  .  Vel  pro  priori  modo 
potest  dici,  quod  sicut  acies  gladii  incidit  per  modum  vibra- 
tionis  suae  materiae  datum,  sie,  quia  materia  potentiarum 
animae  est  eadem,  idcirco  actio  unius  est  sicut  quaedam 
motio  suae  materiae  communis  utrique  potentiae,  per  quam 
altera  potentia  quasi  applicatur  ad  actum  suum;  nam  huius- 
modi  mutuae  motiones  potentiarum  contingunt  in  actionibus 
et  obiectis  ad  invicem  connexis.  Et  secundum  hoc  primi 
forsitan  dicunt  verum. 

Kursus  sciendum,  quod  agenti  per  colligantiam  coope- 
ratur  ipsum  patiens  non  solum  per  modum  susceptivi  nee 
solum  per  modum  mobilis,  immo  etiam  per  formalem  incli- 
nationem  et  unionem  ipsius  ad  illud,  cui  est  coUigatum. 
Quae  quidem  inclinatio  aequivalet  impulsui  vel  influxui  facto 
in  mobili  a  motore.  Propter  hoc  enim  ad  solum  impulsum 
et  motum  rei  sibi  coUigatae  fit  motus  in  ipsa  parte  alia 
absque  impulsu  et  influxu  alio  sibi  dato. 


Die  Colligantia  der  Seelenkräfte  81 

Es  folgt  der  Hinweis  auf  den  tiefsten  Grund  der  Mög- 
lichkeit der  durch  die  Colligantia  bedingten  Wechselwirkung 
zwischen  Leib  und  Seele.  Ulterius  sciendum,  quod  colli- 
gatio  Spiritus  ad  corpus,  propter  quam  motus  vel  dispositio 
unius  redundat  in  alterum,  consistit  principaliter  in  formali 
unione  Spiritus  ad  corpus  tamquam  ad  suam  materiam  et 
corporis  ad  ipsum  tanquam  ad  suam  formam  .  .  .  Secun- 
dario  vero  consistit  in  concursu  plurium  potentiarum  animae 
in  eadem  materia  spirituali  ipsius  animae.  Utrobique  autem 
est  identitas  materiae  causa,  quare  ad  impressionem  directe 
factam  in  corpore  sequatur  aliquis  effectus  in  anima,  acsi 
prima  impressio  facta  in  corpus  esset  quaedam  raotio  ipsius 
animae;  est  enim  pro  tanto  motio  eins,  pro  qanto  est  motio 
suae  materiae  corporalis. 

Aus  alledem  erhellt  erstens,  daß  die  durch  die  Colli- 
gantia bedingte  Wirksamkeit  einen  wahren  Übergang,  ein 
wirkliches  Übergreifen  der  Tätigkeit  von  dem  einen  Teil  auf 
den  andern  mit  ihm  verbundenen  Teil  bedeutet,  nicht  als 
ob  die  spezifische  Natur  der  Handlungsweise  im  letzteren 
von  dem  ersteren  abhänge,  sondern  insofern  als  die  Anre- 
gung von  ihm  ausgeht.  Mit  andern  Worten  nicht  das  „Wie* 
sondern  das  „Daß"  der  Tätigkeit  im  zweiten  Glied  ist  durch 
die  Einwirkung  des  ersten  Gliedes  bestimmt.  Auf  diese  An- 
regung, auf  dieses  Einleiten  des  Prozesses  reagiert  das  mit 
dem  ersten  verbundene  zweite  Glied  so,  wie  es  seiner 
Natur  entspricht.  Olivi  drückt  das  feinsinnig  aus,  wenn  er 
den  Verlauf  dieses  Prozesses  mit  der  Eductio  formae  de  po- 
tentia  materiae  vergleicht.  Für  jeden  mit  den  scholastischen 
Gedankengängen  irgendwie  vertrauten  Leser  ist  damit  der 
Anteil,  den  das  erste  und  den  das  zweite  Glied  hat,  scharf 
von  einander  abgegrenzt. 

Zweitens  ist  nunmehr  der  so  umschriebene  Begriff  der 
Colligantia  auf  die  in  Frage  stehende  Erkenntnislehre  an- 
zuwenden. Der  tiefste  metaphysisch-psychologische  Grund, 
warum  das  so  geheimnisvolle  Einwirken  der  sinnlichen  Akte 
auf  die  geistigen,  des  niedern  Erkennens  auf  das  höhere  und 
umgekehrt  möglich  ist,  ist  der  Zusammenschluß  von  Leib  und 
Seele   in    der  geistigen  Materie:    weil  bei  jedem  sinnlichen 

6 


82  9.  Kapitel 

Akt  bereits  die  geistige  Materie  mitschwingt,  ia  die  letztlich 
sowohl  die  niedern  als  auch  die  höheren  Fähigkeiten 
mllnden,  deshalb  wird  sich  auch  die  Anima  intellectiva 
in  ganz  entsprechender  Weise  betätigen.  Bildeten  Leib  und 
Seele  nicht  ein  Wesen  oder,  um  genauer  im  Sinn  Olivis  zu 
sprechen  (q.  51),  wäre  die  Pars  intellectiva  animae  ratio- 
nalis  nicht  substantiell  mit  dem  Körper  verbunden,  wäre  sie 
nicht  wenigstens  indirekt  und  mittelbar  Form  des  Körpers, 
dann  wäre  ein  Übergang  nicht  möglich;  denn  Körperliches 
kann,  wie  im  ersten  Teil  der  Frage  72  im  Anschluß  an  Au- 
gustin ausführlich  bewiesen  wird,  nicht  unmittelbar  auf  Gei- 
stiges einwirken. 

Diese  mit  großem  Scharfsinn  von  Olivi  ausgedachte  und 
mit  bedeutender  spekulativer  Kraft  von  ihm  durchgeführte 
Theorie  behält  auch  ihren  hohen  Wert,  obschon  sie  von  dem 
Beiwerk  seiner  merkwürdigen,  vom  Vienner  Konzil  verur- 
teilten Inf ormationslehre  ^)  umgeben  ist. 

Wenn  wir  sagten,  Olivi  habe,  soweit  bis  jetzt  die  Quellen 
reichen,  diese  Theorie  ausgedacht,  so  können  wir  ihre  Spuren 
doch  bereits  früher  verfolgen.  Nach  Wilhelm  v.  Auvergne, 
der  uns  bereits  in  dem  Kapitel  über  die  Stellung  des  Ob- 
jektes begegnete  ^)  und  der  in  der  Erklärung  des  Ursprungs 
der  höheren  Erkenntnis  zwischen  Aristoteles  und  Augustin 
auszugleichen  suchte,  „stellt  sich  der  Erkenntnisvorgang  dar 
als -ein  von  innen  heraus  sich  vollziehendes  Auswirken  des 
Erkenntnisbildes,  als  eine  Selbstverähnlichung  der  Seele  mit 
dem  Träger,  und  in  diesem  Sinn  als  ein  Übergang  aus  der 
Potenz  in  den  Akt  .  .  .  Was  er  also  mit  dem  Namen  intel- 
lectus  materialis  benannte,  das  war  die  geistige  Substanz 
der  Seele  selbst,  insofern  sie  die  Fähigkeit  besitzt,  die  äußern 
Dinge  auf  deren  Veranlassung  geistig  in  sich  nachzubilden  .  ., 
er  leugnet  zwar  eine  Wirksamkeit  im  Sinne  der  Übertragung 
physischer  Qualitäten  von  Seite  des  Körperlichen  auf  das 
Geistige,  will  aber  das  Erstere  doch  als  eine  veranlassende 
Ursache  für  die  Betätigung  des  Geistes  gelten  lassen.     Auf 


1)  Jansen,  Quonam  spectet  definitio  Concilii  Viennensis  de  anima. 

2)  Kup.  6  S.  51   Anm.  4,  S.  59  f. 


Die  Colligantia  der  Seelenkräfte  83 

diese  Weise  gewinnt  dann  der  Scholastiker  den  Zusammen- 
hang des  Denkens  mit  der  Außenwelt"  ^). 

Wie  man  sieht,  findet  sieh  der  Grundgedanke  der  Colli- 
gantia-Theorie  Olivis,  daß  bei  Gelegenheit  der  einen  Keihe 
von  Akten  die  Seele  die  entsprechenden  Reihen  anderer 
Art  aus  sich  setzt,  bereits  bei  Wilhelm  v.  Auvergne.  Indes 
sind  das  nur  gelegentliche  Andeutungen,  die  überdies  nur 
das  Entstehen  der  höheren  Erkenntnis  erklären  sollen,  wäh- 
rend Olivi  eine  fein  durchdachte,  tief  begründete  und  aus- 
führlich dargelegte  Theorie  gibt,  die  zudem  ganz  allgemein 
gilt,  ebenso  wohl  für  den  Weg  von  unten  nach  oben  wie  für  den 
von  oben  nach  unten,  sowohl  für  den  Zusammenhang  des 
Erkenntnisverlaufes  als  auch  für  den  Zusammenhang  des 
Erkennens  mit  dem  Begehren. 

Genug,  die  Ausführungen  Wilhelms  v.  Auvergne  zeigen, 
daß  die  Motive,  die  zur  CoUigantia-Theorie  führten,  schon 
längst  vor  Olivi  in  der  Luft  lagen.  Die  Augustinische  Er- 
kenntnislehre, die  bekanntlich  die  geistigen  Denkakte 
unabhängig  von  der  sinnlichen  Erfahrung,  ganz  aus  der 
schöpferischen  Kraft  der  Seele  geboren  werden  läßt,  brauchte 
bloß  mit  Elementen  der  Aristotelischen  Erklärung  durchsetzt 
und  abgeschwächt  zu  werden  und  wir  haben  die  Auffassung 
von  der  „veranlassenden  Ursache",  wie  sie  bei  Wilhelm 
V.  Auvergne  vorliegt;  wie  ja  auch  tatsächlich  seine  Erkennt- 
nislehre gerade  durch  diese  Vermengung  Augustini  scher 
und  Aristotelischer  Elemente  ^)  gekennzeichnet  ist. 

Wir  dürften  demnach  der  Wahrheit  am  nächsten  kommen, 
wenn  wir  annehmen,  daß  Olivi  auch  im  gegenwärtigen  Lehr- 
punkt an  vorliegende  Arbeiten  von  Vorgängern  und  Zeit- 
genossen anknüpfte  und  deren  Ausführungen  in  schöpferi- 
scher Synthese  zu  einer  allseitigen  Gesamttheorie  gestaltete. 
Diese  Methode  entspricht  ganz  seiner  sonstigen,  selbständigen 
und  dabei  doch  wieder  konservativen  Art,  z.  B.  bei  der  Ver- 
werfung der  Spezies,  bei  der  Leugnung  des  Einflusses  des 
Objektes,   in    der   Informations-    und  Preiheitslehre.     Nahe- 

1)  Bauragartner,  Die  Erkenntnielehre  des  Wilhelm  v.  Auvergne, 
S.  56  f. 

2)  Siehe  den  ganzen  dritten  Abschnitt  bei  Baumgartner. 


84  9.  Kapitel 

gelegt  wird  diese  Vermutung  auch  dadurch,  daß  Olivi  gerade 
in  der  Erkenntnislehre  Augustinus  und  Aristoteles  ständig 
mit  einander  auszugleichen  sucht. 

Fragen  wir  nunmehr,  welche  geschichtliche  Wirkung 
von  der  CoUigantia-Lehre  Olivis  ausgegangen  ist,  so  scheint 
es  fast,  als  sei  sie  zunächst  völlig  der  Vergessenheit  an- 
heimgefallen. Diese  Erscheinung  mag  auf  den  ersten  Blick 
befremden.  Bedenkt  man  aber,  wie  scharf  seine  Lehre  in 
und  außerhalb  des  Ordens  verurteilt  wurde,  mit  welcher 
Härte  seine  Schriften  eingezogen,  verboten  und  verbrannt 
wurden,  so  daß  ein  so  hervorragender  Kenner  des  Biblio- 
thekwesens und  der  mittelalterlichen  Handschriften  wie  P. 
Ehrle  den  Codex  Vaticanus  erst  nach  langem  Suchen  ent- 
deckte^), so  ist  nichts  natürlicher  als  diese  Vergessenheit. 

Nur  bei  einem  Zeitgenossen  Olivis,  bei  Petrus  de  Tra- 
bibus, den  P.  Ehrle  2)  als  „dessen  treuesten  Schüler"  be- 
zeichnet, finden  wir  die  CoUigantia-Lehre  vertreten.  Auch 
er  erklärt  ganz  allgemein  den  Übergang  vom  niederen  zum 
höheren  Erkennen  und  umgekehrt  vom  höheren  zum  niederen, 
desgleichen  die  Vermittlung  zwischen  Erkennen  und  Streben 
durch  die  CoUigantia. 

Zunächst  leugnet  er  die  Augustinische  Illuminations- 
theorie, wobei  er  das  videre  in  rationibus  aeternis  ganz  wie 
Thomas  v.  Aquin  und  Olivi  deutet:  intellectum  nostrum  vi- 
dere seu  cognoscere  aliquid  in  Deo  sive  in  divina  luce  bene 
dicitur,  quia  efficit  ipsum  intellectum  dans  ei  esse  et  vir- 
tutem  ad  intelligendum;  et  iste  est  modus  communis  natu- 
ralis cognitionis.  Sodann  behauptet  er  in  der  gleichen  Frage, 
daß  unser  Erkennen  mit  der  sinnlichen  Erfahrung  beginne : 
sicut  in  corporali  visione  lux  est  primum  et  principale  visi- 
bile  et  ideo  omnis  oculus  habet  naturalem  promptitudinem 
et  facilitatem  ad  videndam  lucem,  sie  in  visione  intellectiva 
prima  et  per  se  nota  sunt  principia  cognoscibilia  et  prima. 
Et  ideo  omnis   intellectus  habet  naturalem   promptitudinem 


1)  Ehrle,   Petrus    Job.  Olivi.    Sein    Leben     und    seine    Schriften 
(Archiv,  Bd.  III  S.  409—553). 

2)  Archiv,  III  459 ;  vgl.  Wadding-Sbaralea,  Supplementum,  unter 
Petrus  de  Trabibus  (p.  611  sq.)  und  Jacobus  Trisanto  (p.  378). 


Die  Colligantia  der  Seelenkräfte  85 

et  facilitatem  ad  talia  intelligenda,  quando  ei  proponuntur 
Tel  ab  eo  apprehenduntur.  Ad  hoc  enim,  quod  intellectus 
ita  cognoscat,  necesse  est,  quod  species  eorum  per  sensus 
mediate  vel  immediate  acqiiirat.  Aliter  enim  nulli  intellectui 
humano  praesentia  erunt. 

Drittens  untersucht  Petrus  de  Trabibus  in  ausführ- 
lichen Fragen,  die  bei  Olivi  fehlen,  das  Vorhandensein  des 
Intellectus  agens  und  possibilis  und  leugnet  es. 

Viertens  verwirft  er  gelegentlich,  im  Geiste  sein  es  Lehrers, 
die  den  Erkenntnisakt  einleitende  Species  impressa  und 
leugnet  den  ursächlichen  Einfluß  des  Objektes. 

Die  bisherige  vollkommene  Übereinstimmung  legt  den 
Schluß  nahe,  daß  Petrus  de  Trabibus  gleich  Olivi  auch  die  Ent- 
stehung des  höheren  Erkennens  durch  die  Colligantia  po- 
tentiarum  erklärt,  zumal,  wie  es  scheint,  dies  der  einzig  noch 
übrig  bleibende  Weg  ist. 

Das  geschieht  nun  auch  tatsächlich,  wenngleich  nicht 
formell,  in  der  Frage:  utrum  liberum  arbitrium  possit  im- 
pediri  per  corporis  impedimentum.  Ich  sage,  es  geschieht 
nicht  formell  oder  mit  ausdrücklichen  Worten,  denn  es  wird 
nicht  die  Anwendung  des  dort  aufgestellten  Grundsatzes  auf 
unsern  Einzelfall,  nämlich  auf  den  Übergang  vom  niederen 
auf  das  höhere  Erkennen,  gemacht.  Um  so  klarer  wird 
dagegen  das  allgemeine  Prinzip  der  Colligantia,  das  jed- 
weden Übergang  zwischen  Körper  und  Geist,  zwischen  der 
einen  Seelenkraft  und  der  andern  regelt,  ausgesprochen. 
Voluntas  nata  est  dupliciter  moveri,  uno  modo  per  naturalem 
colligantiam  sui  ad  rationem  et  ad  potentias  inferiores.  Motus 
enim  appetitus  intellectivi  naturaliter  est  coniunctus  appre- 
hensioni  intellectus,  sicut  etiam  in  sensitiva  se  habet.  Et 
ideo,  quando  intellectus  rationem  boni  et  delectabilis  in 
aliquo  apprehenso  ei  repraesentat,  statim  habet  ad  illud 
moveri  et  inclinari.  Necesse  [est]  etiam  dicere,  quod  vege- 
tativa, sensitiva  et  intellectiva  sint  diversae  partes  formales 
unius  animae  humanae  in  una  spirituali  materia  animae 
radicatae,  unum  suppositum  animae  constituentes.  —  Es  folgt 
die  weitere  Ausführung  der  Informationslehre,  genau  wie  bei 
Olivi.  —  Cum  ergo  potentiae  sint  omnes  unitae  et  radicatae 


86  9.  Kapitel 

in  una  spirituali  materia  et  supposito.  sint  etiam  omnes  unitae 
corpori  essentialiter,  licet  non  omnes  formaliter  sint —  d.  h.  die 
intellectiva  pars  ist  nicht  per  se  forma  corporis,  wie  das 
auch  Olivi  gelehrt  hatte  — :  manifestum  est,  quod  ineptitudo 
existens  in  corpore  vel  mutatio  in  ipso  facit  in  anima  im- 
mutationem  immediate  quoad  potentias  inferiores;  impeditio 
autem  potentiarum  inferiorum  vel  occupatio  nimia  in  actibus 
suis  redundat  in  potentiam  intellectivam. 

In  diesen  Worten  ist  mit  voller  Klarheit  die  Colligantia- 
Lehre  ausgesprochen,  wenngleich  sie  nicht  ausdrücklich  auf 
das  Erkennen  angewandt  wird;  wie  es  scheint,  entwickelt 
Petrus  de  Trabibus  in  seinem  Sentenzenkommentar  keine 
zusammenhängende  Theorie  über  den  Ursprung  und  Ver- 
lauf des   Erkennens. 

Scotus,  der  OUvi  als  Zeitgenosse  und  Mitbruder  nahe 
stand  und  der  genau  über  seine  Informationslehre  berichtet^), 
schweigt  sich  an  der  Stelle,  wo  er  deutlich  an  die  Leug- 
nung des  Einflusses  des  Objektes  auf  das  höhere  Erkennen 
anspielt,  wie  jener  das  vorgetragen  hatte,  völlig  über  die 
CoUigantia-Theorie  aus  2).  Und  doch  hätte  man  dort  eine  Er- 
wähnung erwarten  dürfen.  Scotus  geht  nämlich  sechs  ver- 
schiedene Ansichten  über  die  Entstehung  der  höheren  Er- 
kenntnisse durch,  ist  sehr  ausführlich  und  doch  erwähnt  er 
auch  nicht  von  ferne  die  Colligantia-Lehre. 

Erst  im  16.  Jahrhundert  taucht  sie  wieder  auf.  Außer 
Suarez  halten  sie  verschiedene  Thomisten,  wie  jener  ^)  und 
Rubins^)  berichten,  und  mehrere  Jesuiten,  so  außer  dem 
bekannten     Silvester     Maurus^)     Thomas    Compton*^}     und 


1)  De  rerura  principio,  q.  9  a.  2   sect.  1   n.  16;  q.  11   a.  2  n.  6,  7. 

2)  Sent.,  I  d.  III  q.  7;  vgl.  Kap.  6  S.  60  f. 

3)  De  anima.  Hb.  IV  cap.  2  n.  10. 

4)  De  anima,  Hb.  III  cap.  4,  5,  tract.  de  intellectu  agente,  quaest. 
3.  n.  45  (nach  J.  J.  Urraburu,  Institiitiones  Philosophicae,  pars  II,  Val- 
lisoleti  1896,  p.  483);  Urraburu  macht  dort  (nach  Joh.  Martinez  Prado, 
De  anima,  lib.  III  q.  24  n.  37)  auch  den  Thomisten  Wazarius  namhaft. 

5)  Quaest.  philos.  De  anima,  quaest.  4  resp.  6;  S.  Maurus  bringt 
in  wenigen  Worten  die  bloße  Quintessenz. 

6)  De  anima,  disp.  16  sect.  7  n.  1   (bei  Urraburu,  p.  483). 


Die  Colligantia  der  Seelenkräfte  87 

Tellez  *).  Wir  gehen  schwerlich  irre,  wenn  wir  dieses  Wieder- 
aufleben großenteils  auf  den  Einfluß  des  im  16.  und  17. 
Jahrhunderts  unter  allen  Neuscholastikern  einflußreichsten 
und  bedeutendsten  Philosophen,  des  Franz  Suarez^),  zurück- 
führen. 

Daß  dieser  die  Colligantia-Theorie  vorfand,  sagt  er  nicht 
ausdrücklich,  wenn  er  auch  bemerkt:  propter  haec  ergo  — 
der  Schwierigkeiten,  die  in  dem  Mitwirken  des  Phantasma 
als  Causa  Instrumentalis  für  die  Erzeugung  der  Species  in- 
telligibiles  liegen  —  nonnulli,  etiam  ex  Thomistis,  aiunt  phan- 
tasma  non  concurrere  effective  sed  materialiter  ad  produc- 
tionem  speciei  solumque  intellectum  agentem  illam  efficere; 
quod  non  ita  intelligunt,  ut  ipsum  phantasma  sit  materia, 
ex  qua  educatur  species,  id  enim  imposibile  esset ....  Dici- 
tur  ergo  phantasma  materialiter  concurrere,  eo  quod  praebet 
veluti  materiam  intellectui  agenti  ad  efficiendam  speciem 
intelligibilem.  Quae  opinio  recte  explicata  videtur  in  prae- 
senti  probabilior  (n.  11). 

Mit  diesen  Worten  ist  freilich  der  Grundgedanke  der 
Thomistischen  Ansicht,  wonach  das  Phantasma  als  Causa 
efficiens  einfließt,  abgelehnt,  und  auch  ein  wichtiges  Element 
der  nun  folgenden  positiven  Erklärung,  daß  das  Sinnenbild  die 
Materia  ex  qua  ist,  aus  der  der  Intellectus  agens  die  Species 
expressa  herausarbeitet,  angegeben,  aber  noch  nicht  gesagt, 
wie  es  möglich  ist,  daß  der  Verstand  in  Tätigkeit  tritt.  Das 
aber  ist  gerade  der  springende  Punkt  in  der  Colligantia- 
Theorie. 

Diese  wird  nunmehr  in  zwei  Stufen  dargelegt:  intellectus 
agens  nun  quam  efficit  speciem,  nisi  a  phantasiae  cognitione 
determinetur.  Es  folgt  die  Begründung  dafür,  die  wir  über- 
gehen können.  Secunda  conclusio:  praedicta  determinatio 
non  fit  per  influxum  aliquem  ipsius  phantasmatis,  sed  ma- 
teriam et  quasi  exemplar  intellectui  agenti  praebendo  ex  vi 


1)  De  anima,  disp.  33  sect.  1.  n.  5  (bei  Urraburu,  p.  483). 

2)  Raoul  de  Scoraille,  Fran^ois  Suarez,  2  vol.  Paris  1913;  Karl 
Werner,  Fr.  Suarez  und  die  Scholastik  der  letzten  Jahrhunderte, 
Regensburg  1861  ;  Grabmann,  Die  Disputation  es  metaphysicae  des 
Fr.  Suarez. 


88  9.  Kapitel 

unionis,  quam  habent  in  eadem  anima  .  .  .  Secunda  vero 
explicatur  ex  dictis  de  sensibus  interioribus  lib.  3.  cap.  9. 
Xam  ad  eum  modum,  quo  ibidem  postrerao  loco  dixi  fieri 
species  in  interiori  sensu,  iudico  fieri  in  intellectu.  Est  enim 
notandum  phantasma  et  intellectum  hominis  radicari  in  una 
eademque  anima.  Hinc  enim  provenit,  ut  mirum  habeant 
ordinem  et  consonantiam  in  operando,  unde  —  quod  infra 
patebit  —  eo  ipso,  quod  intellectus  operatur,  imaginatio  etiam 
sentit.  Ad  hunc  ergo  modum  arbitror  intellectum  possibilem 
de  se  nudum  esse  speciebus,  inesse  tamen  animae  rationali 
vim  spiritualem  ad  efficiendas  in  intellectu  possibili  species 
earum  rerum,  quas  per  sensum  cognoscit,  ipsa  sensibili  cog- 
nitione  minime  concurrente  efficienter  ad  eam  actionom,  sed 
habente  se  instar  materiao  aut  excitantis  animam  aut  vero 
ad  instar  exemplaris  ...  A  simili  etiam  potest  explicari 
tum  in  sensibus  interioribus  tum  in  potentiis  appetitivis.  Est 
enim  appetitus  totalis  causa  sui  actus  .  .  .  pendensque  prae- 
suppositive  tantum  in  operatione  sua  a  potentia  cognoscente ; 
si  namque  cognitio  non  praecedat,  agere  appetitus  non  potest, 
posita  autem  cognitione  exercitatur  per  se  appetitus  ad  ope- 
rationem  propriam  (n.  12). 

Die  Stelle  aus  lib.  III  cap.  9,  n.  10,  auf  die  vorhin  ver- 
wiesen wurde,  lautet :  probabile  est  species  interiores  resul- 
tare  in  interiori  sensu  ex  propria  illius  efficientia  .  .  .  Nunc 
vero  declaratur  ex  supra  dicta  sympathia  seu  consensione 
potentiarum  cognoscentium  propter  radicationem  in  anima 
eadem.  Nam  eo  ipso,  quod  anima  per  externum  sensum 
cognoscit,  ad  praesentiam  talis  cognitionis  absque  uUa  eins 
activitate  resultat  ab  interne  sensu  effective  interna  species. 
Die  Stelle  über  die  dicta  sympathia  heißt:  illa  duarum  facul- 
tatum  in  eadem  anima  radicatio  concludit  solum  per  modum 
cuiusdam  sympathiae,  quatenus  operante  una  facultate  anima 
inde  excitatur  ad  operandum  per  aliam  (cap.  9  n.  3). 

Steht  nun  diese  Erklärung  des  Suarez  in  ursächlichem 
Zusammenhang  mit  der  CoUigantia-Theorie  Olivis  oder,  falls 
dieser  sie  nicht  zuerst  ausgedacht  hat,  mit  seiner  Quelle? 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hat  Suarez  Olivi  nicht  als 
Vertreter   dieser   Ansicht  gekannt,   denn   sonst  hätte  er  ihn 


Die  CoUigantia  der  Seelenkräfte 


nach  seiner  ständigen  Art,  die  früheren  Autoren  in  Menge 
zu  zitieren,  erwähnt.  Suarez  hat  nicht  einmal  geahnt,  daß 
Olivis  Informationslehre  vom  Vienner  Konzil  verurteilt  ist. 
In  q.  12  des  ersten  Buches  De  anima  behandelt  er  ex  pro- 
fesso  die  Frage :  utrum  principium  intelligendi  in  homine  sit 
Vera  forma  substantialis  eins;  in  der  ersten  Nummer  führt 
er  die  gegenteilige  Ansicht  an,  zitiert  verschiedene  Autoren 
und  sagt  zum  Schluß  derselben :  denique  tempore  Concilii 
Viennensis  sub  demente  V.  .  .  .  hie  error  excitatus  videtur. 
Diese  Formulierung  sagt  klar,  namentlich  wenn  man  dazu 
die  sechste  Nummer  hinzuzieht,  daß  Suarez  Olivi  schwerlich 
kannte.  Weiterhin  springt  die  vielfache  Verschiedenheit 
sofort  in  die  Augen  :  die  Unterscheidung  des  Intellectus  agens 
und  possibilis  und  das  Herausarbeiten  der  Species  intelli- 
gibilis,  was  bei  Olivi  ganz  fehlt. 

Es  kommt  hier  indes  bloß  auf  den  einen  Punkt  an,  ob 
Suarez  das  schwierige  Problem  des  Überganges  vom  Sinn- 
lichen oder  Körperlichen  auf  das  Geistige  im  Grunde  ebenso 
löst  wie  Olivi  und  ob  weiterhin  seine  konkreten  Ausführungen 
an  die  Ausdrucksweise  des  letzteren  erinnern?  Das  ist  nun 
tatsächlich  der  Fall.  Beide  verwerfen  eine  ursächliche  Ein- 
wirkung der  niederen  Seelenteile  auf  die  höheren,  beide 
betonen  die  Aktivität  der  Vermögen  und  sagen  vor  allem, 
daß  der  Verstand  die  einzige  Wirkursache  der  geistigen  Er- 
kenntnis ist.  Das  ist  indes  das  Wenigste,  das  hätten  allen- 
falls auch  die  Anhänger  Augustins  gesagt.  Auffallend  ist 
indes,  das  Suarez,  der  sonst  Aristoteliker  und  Anhänger  von 
Thomas  ist,  diese  Ansicht  gegen  letzteren  vorträgt.  Bedeu- 
tungsvoller noch  ist,  daß  beide  die  Anwesenheit  des  Phan- 
tasma für  eine  Conditio  sine  qua  non  halten.  Entscheidend 
aber  für  die  Gleichheit  beider  ist  letztlich,  daß  sie  den  tief- 
sten Grund  der  Möglichkeit  des  Überganges  in  der  Radicatio 
der  verschiedenen  Potenzen  in  ein  und  derselben  Seele  er- 
blicken und  daß  sie  durch  diese  CoUigantia  bzw.  Sympathia 
potentiarum  ganz  allgemein,  nicht  nur  für  die  Erkenntnis, 
sondern  auch  für  die  Strebevermögen  den  Übergang  von 
der  einen  Seelenkraft  auf  die  andere,  und  zwar  von  unten 
nach  oben  und  umgekehrt,  erklären.     Zu  dieser  Gleichheit 


90  9.  Kapitel 

in  den  Grundgedanken  kommt  als  wichtiges  Moment  die 
auffällige  Übereinstimmung  in  der  konkreten  Einzelausfüh- 
rung hinzu.  Bemerkenswert  ist  zunächst,  daß  beide  wieder- 
holt dasselbe  Bild  von  der  Radicatio  in  eadem  anima  haben  ^). 
Die  Ausdrücke  Colligantia,  Sympathia  und  Consonantia  haben 
sodann  eine  ähnliche  Klangfarbe.  Wenn  ferner  Suarez  das 
Phantasma,  das  dem  Compositum  aus  Leib  und  Seele  an- 
gehört, als  die  Materie  bezeichnet,  aus  der  der  Verstand 
seinen  Akt  gewinnt,  so  spricht  Olivi  von  der  Mobilitas  ma- 
teriae  spiritualis  ad  motum  —  d.  h.  das  geistige  Erkennen 
—  ex  ea  educendum.  Beide  betonen  weiterhin  den  Ordo 
zwischen  den  verschiedenen  Seelenteilen  bzw.  Seelenkräften. 
Ganz  auffallend  suchen  endlich  beide  die  Bedeutung  des 
Sinnlichen,  das  ja  keinen  ursächlichen  Einfluß  auf  das  Gei- 
stige ausüben  darf,  unter  der  Bezeichnung  Inclinatio,  Im- 
pulsus  und  Influxus  (Olivi)  Excitatio  und  Exemplar  (Suarez) 
näher  und  anschaulicher  zu  bestimmen. 

So  dürfte  es  nach  den  Regeln  der  Innern  Kritik  eine 
gut  begründete  Wahrscheinlichkeit  sein,  daß  sich  die  Colli- 
gantia-Theorie,  mag  Olivi  sie  nun  zuerst  entwickelt  oder 
in  ihren  Einzelmotiven  oder  in  ihrer  Gesamtheit  von  andern 
übernommen  haben,  bis  auf  Suarez  erhalten  und  daß  dieser 
aus  ihr  geschöpft  hat. 

Seitdem  ist  sie  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  oft  vertreten 
worden,  so  von  den  scharfsinnigen  Tongiorgi  *)  und  Palmieri ''). 


1)  Olivi  hat  diesen  Ausdruck  wiederholt,  z.B.  in  q.  51  und  q.  59; 
vgl.  Jansen,  Die  Lehre  Olivis  über  das  Verhältnis  von  Leib  und 
Seele,  S.  171  f. 

2)  Institutiones  philosophicae,  vol.  3.,  2.  ed.,  Paderbornae  1863,  p. 
193  sqq. 

3)  Institutiones  philosophicae,  vol.  2.,  Romae  1875,  p.  477. 


10.  Kapitel. 

Das  sinnliche  Ericennen. 

Was  Olivi  über  die  Sinneserkenntnis  gelegentlich  ein- 
streut, ist  ziemlich  dürftig;  nur  der  eine  oder  andere  Punkt 
verdient  nähere  Beachtung.  Über  die  Natur  derselben,  ob 
sie  etwa  wie  bei  Aristoteles  *)  ein  Aufnehmen  der  Form  des 
sinnfälligen  Gegenstandes  ohne  dessen  Materie  ist,  äußert 
er  sich  nirgends.  Bei  seiner  naiv-realistischen  Auffassung 
der  Abbildungstheorie,  wonach  jedes,  also  auch  das  sinnliche. 
Erkennen  ein  Sichhinwenden  zum  Gegenstand  ist,  ohne  daß 
Species  als  Vermittler  zwischen  Objekt  und  Subjekt  herbei- 
gezogen würden,  hat  er  noch  kein  Verständnis  für  das 
Problem  und  seine  Schwierigkeit^). 

Obschon  in  den  Fragen  74  und  58  ganz  allgemein  die  Spe- 
cies für  jedes  Erkennen  abgelehnt  werden,  so  wird  doch  im 
2.  Teil  der  Frage  73  die  Erklärung  der  Sinneserkenntnis 
durch  Species,  mögen  sie  nun  ausgedehnt  oder  einfach  sein, 
in  breit  angelegten  Ausführungen  noch  eigens  bekämpft. 
Geschichtlichen  Wert  haben  sie  insofern,  als  sie  verschiedene 
eigentümliche  Erklärungsversuche  jener  Zeit  wiedergeben. 
Ihr  kritischer  Wert  liegt  in  dem  energischen  Nachweis  der  in 
diesen  Theorien  enthaltenen  Unmöglichkeiten  und  Irrtümer^). 

1)  De  anima,  II  12;  III  8:  Geyaer,  Die  Erkenntnistheorie  des 
Aristoteles,  S.  154  ff. 

2)  Vgl.  Pesch-Frick,  Institutiones  Logicae  et  Ontologicae,  n.  492 
sqq.;  Ed.  v.  Hartmann,  Das  Grrundproblem  der  Erkenntnistheorie, 
Leipzig  1889;  B.  Dürr,  Erkenntnistheorie,  Leipzig  1910,  besonders  S. 
98 ff.  und  236  ff.;  Martin  flonecker,  Gegenstandslogik  und  Denklogik, 
Berlin  1921. 

3)  Vgl.  z.  B.  Roger  Bacons  Perspectiva  und  De  multiplicatione 
specierum;  siehe  darüber  Fröbea,  Aus  der  Vorgeschichte. 


92  10.  Kapitel 

Es  mögen  darum  einige  kurze  Belege  folgen:  species 
influxa  prius  et  fortius  et  raagis  proprie  et  conformius  re- 
praesentat  speciem,  a  qua  immediate  gignitur  quam  aliam. 
Sed  ab  obiecto  distanti  non  potest  fieri  specios  in  visu  nostro 
nisi  per  aliquam  genitam  in  medio.  Ergo  prius  et  fortius 
et  conformius  et  magis  proprie  repraesentat  illam  speciem 
quam  illud  obiectum.  Sed  illud  videtur  prius  et  immediatius 
et  expressius,  quod  visui  sie  primo  repraesentatur.  Ergo 
sola  species  immediata  gignens  speciem,  per  quam  fit  visio, 
videbitur  primo  et  principalius  et  proprie. 

Gegen  die  Species  simplices,  die  vom  Objekt  durch  das 
Medium  zum  Auge  gehen  sollen,  wird  ausgeführt:  quaero, 
an  haec  species  spiritualis  sit  tota  in  pluribus  partibus  aeris, 
sicut  est  anima  in  pluribus  partibus  corporis  aut  non.  Si 
sie.  ergo  quoad  esse  non  dependet  a  partibus  materiae,  quas 
informat,  quia  quacunque  una  partium  sui  subiecti  sublata 
adhuc  existit  in  ceteris.  .  .  Si  vero  non  est  tota  simul  in 
pluribus  partibus  aeris.  tunc  aut  est  extensa  aut  punctalis 
et  neutro  modo  est  spiritualis.  Quartum  impossibile  est,  quod 
forma  spiritualis  fluat  a  forma  corporali  et  extensa. 

Bemerkenswert  ist  weiterhin  folgende  Erklärung:  aut 
species  visualis  quantitatem  obiecti  per  propriam  quanti- 
tatem  aut  per  aliquid  aliud  repraesentabit.  Si  per  propriam 
quantitatem,  ergo  nunquam  repraesentabit  quantitatem  ma- 
iorrem  sua,  et  ita  nulla  res  videbitur  nobis  maior  oculo  nostro. . . 
Si  vero  per  aliud,  hoc  non  potest  esse  nisi  sola  sua  ratio 
specifica,  per  quam  analogice  est  in  specie  coloris  vel  lucis 
et  quae  est  per  suam  quantitatem  propriam  formaliter  ex- 
tensa. Constat  autem,  quod  per  hoc  non  habet  repraesen- 
tare  nisi  colorem  vel  lucem,  prout  sunt  quaedam  species 
qualitatis.  .  .  Ergo  ex  hoc  non  repraesentabunt  aliquid,  quod 
sit  primo  et  per  se  in  praedicamento  quantitatis. 

Das  gleiche  kritische  Verständnis  für  die  Schwierig- 
keit, wie  durch  die  Species  der  dreidimensionale  Raum 
unmittelbar  wahrgenommen  werden  könne,  spricht  aus 
folgender  Auseinandersetzung:  forte  respondebitur,  quod 
quaelibet  pars  perspicui  spatium  intermedium  occupantis 
generat  suam  speciem  in  oculo,  ita  quod  in  oculo  sunt  plures 


Das  sinnliche  Erkennen  93 

species   partium    perspicui    praedicti   simul   cum   specie   ob- 
iecti  principalis,  per  primas  autem  ut  simul  sumptas  reprae- 
sentatur  quantitas  spatii,  per  ultimam  vero  quantitas  obiecti. 
—   Sed   contra    hoc    arguitur :    primo,    quia    ex    quo    istae 
species  sunt  in  eodem  situ  oculi  .  .  .,  sequitur,  quod  reprae- 
sentabunt  omnes  quantitates  partium  spatii   ut  quasi  aeque 
distantes  ab  oculo.  .  .  Tertio,  quia  locus  obiecti  non  cohaeret 
inseparabiliter   formae    obiecti,     a    qua    gignitur    species.  .  . 
Ergo   ex  hoc,    quod  species   visualis  repraesentabit  formam 
obiecti,  non  repraesentabit  plus  unum  locum  eins  quam  alium. 
Forte  respondebitur,   quod   quantitas  pyramidis   ex  omnibus 
speciebus  intermediis  constitutae  repraesentatur  per  speciem 
in  oculo  genitam   et  ideo    per   eam    videtur  quantitas   prae- 
dictae  pyramidis  et  eo  ipso  videtur  quantitas  spatii,   in  quo 
est  pyramis  praedicta.    Sed  contra  hoc  arguitur  .  .  .  secundo 
quia  species  genita  in  oculo  non  potest  per  id  ipsum  reprae 
sentare   quantitatem   obiecti   et  quantitatem  praedictae  pyra 
midis,  cum  istae  sint  quantitates  valde  diversae  et  in  diver 
sis  subiectis  et  locis  et  diversas  species  figurarum  habentes 
quae  quidem  figura  et  earum  diversitas  a  visu  nostro  videtur 

Nachdrücklich  wird  wiederholt  Augustins  Erklärung  der 
sinnlichen  Erkenntnis  zurückgewiesen.  So  heißt  es  im  vierten 
Teil  der  Frage  74:  satis  autem  miror,  quomodo  Augustinus  VI. 
Musicae  et  libro  De  quantitate  animae^)  dixit,  quod  sentire 
res  extrinsecas  est  idem  quod  non  latere  seu  advertere  et 
percipere  passionem,  id  est,  speciem  corporalem  ab  obiecto 
impressam,  non  in  animam.  sed  in  corpus.  Nam  hoc  non 
esset  sentire  ipsum  obiectum,  immo  solum  esset  sentire  eins 
effectum  et  hoc  prout  existit  in  corpore  sentientis.  Amplius 
vero  miror,  quomodo  XI  De  Trinitate^)  dixit,  quod  species 
corporalis  est  ipsa  visio  et  quod  actus  visionis  integratur 
ex  duobus,  scilicet  ex  hac  specie  corporali  et  ex  actuali 
intentione  animae. 

Noch  energischer  lehnt  Olivi  die  Platonische  Emissions- 
theorie ab,  die  er  im  Anfang  der  q.  73  in  folgender  Weise 
charakterisiert:    quidam    vero   Platonici  .  .  .   dixerunt  poten- 

1)  De  musica,  VI  5  n.  9,  10;  De  quant.  animae,  cap.  24. 

2)  De  Trin.,  IX  2. 


94  10.  Kapitel 

tiam  visionem  cum  quibusdam  radiis  corporalibus  realiter 
emitti  usqiie  ad  res  visas  ibique  recipere  realem  speciem 
ab  obiecto.  Hos  etiam  radios  dixerunt  esse  corpora  subti- 
lissima  et  lucida  et  quasi  spiritus  vaporeos  ab  anima  vege- 
tatos  et  ab  oculo  usque  ad  res  visas  protendi  et  exinde  retrahi 
per  virtutes  animae  ipsos  vegetantis  et  moventis  et  se  ipsam 
in  eis.  Ebenso  bestimmt  wie  treffend  führt  er  dagegen 
aus:  praedicta  autem  opinio  Platonicorum  est  conflata  ex 
impossibilibus  et  ex  improbabilibus  et  ex  inutilibus  ad  actum 
sentiendi.  Daraufhin  wendet  er  sich  noch  eigens  gegen  die 
Emissionstheorie  Augustins,  der  auch  Anselm  *)  in  libro  De 
veritate  gefolgt  sei,  namentlich  insofern  Augustin  ein  Aus- 
treten der  Seele  aus  dem  Körper  behauptet.  Deutlich  hat 
Olivi  die  beiden  Parteien  der  Aristoteliker  und  PJatoniker 
oder  der  Naturforscher  und  Mathematiker  vor  Augen,  wenn 
er  schreibt:  quidquid  isti  salvant  per  radios  venientes  a 
rebus,  salvant  ipsi  per  radios  virtuales  ipsius  visus  —  das 
ist  seine  Ansicht  — ,  sicut  et  Augustinus  et  multi  alii  salvant 
per  radios  oculi  corporales  (Q.  58  in  der  Lösung  der  14.  Ob- 
jektion der  10.  Supprobatio)^).  Diese  Stelle  deutet  darauf- 
hin, daß,  wie  überdies  in  q.  73  ausdrücklich  gesagt  wird, 
Olivis  Theorie  von  den  Radii  virtuales  oder  dem  Aspectus 
potentiae  eine  Umbildung  und  Verallgemeinerung  der  Plato- 
nisch-augustinischen  Emissionslehre  ist. 

Das  bisher  Gesagte  zeigt  uns  Olivi  vornehmlich  als 
Kritiker.  Indes  bieten  seine  Bemerkungen  über  die  Sinnes- 
erkenntnis  auch  manche  wertvolle    positive  Gesichtspunkte. 

Zu  beachten  ist  zunächst  die  gelegentliche   erkenntnis- 


1)  De  verit.,  cap.  6. 

2)  Vgl.  Grosseteste  (Ludwig  Baiir,  Die  Philosophie  des  Robert 
Grosseteste,  S.  1 11  ff.) :  „Er  selbst  [Grosseteste]  erwähnt  beide  gegen- 
sätzlichen Ansichten  :  Die  Naturphilosophen,  sagt  er,  behaupteten,  das 
Sehen  entstehe  intussuscipiendo,  indem  sie  das  berühren,  was  ex  parte 
Visus  natürlich  und  passiv  ist.  Die  Mathematiker  aber  sind  diejenigen 
Physiker,  welche  das  betrachten,  was  über  der  Natur  ist ;  indem  sie  das 
berühren,  was  ex  parte  visus  supra  naturam  und  aktiv  ist,  sagen  sie, 
das  Sehen  kommt  extramittendo  zustande".  .  .  .  „Dieselbe  Gegenüber- 
stellung der  Mathematiker  und  Naturforscher  [findet  sich]  bei  Ibu  al 
Haitam  (Alhazen)  in  seiner  Abhandlung  über  das  Lichf^. 


Das  sinnliche  Erkennen  95 

theorische  Erwähnung  von  den  spezifischen  Objekten  der 
einzelnen  Sinne,  wenngleich  damit  nichts  ]^eues  gesagt  wird. 
In  diesem  Zusammenhang  muß  das  im  4.  Kapitel  Gesagte 
wiederholt  werden:  alle  Sinnesakte  und  deren  Träger  sind 
einfach,  das  Gehirn  ist  der  Sitz  und  das  Organ  der  Empfin- 
dung, in  den  Hohlräumen  der  Nerven  bewegen  sich  die 
Lebensgeister  als  Vermittler  der  Wahrnehmung.  An  die 
Sinnesbilder,  die  im  sinnlichen  Gedächtnis  aufbewahrt  werden, 
ist  die  schöpferisch  kombinierende  Phantasie  in  ihrer  Tätig- 
keit gebunden.  Licht  und  Farbe  sind  verschieden,  wieder- 
holt wird  ihre  Bedeutung  für  das  Sehen  hervorgehoben. 

Wichtiger  ist  indes  das  Verständnis  Olivis  für  das  Ver- 
hältnis der  Innern  und  äußern  Sinne.  Er  schöpft  da  wie 
Witelo,  Bacon  und  Pecham  aus  Alhazen ;  freilich  sind  seine 
Darbietungen  im  Vergleich  zu  deren  ausführlichen  Darle- 
gungen dürftig  zu  nennen.  Immerhin  hebt  er  wiederholt 
die  engen  Beziehungen  zwischen  äußerm  und  innerm  Wahr- 
nehmen hervor.  So  sagt  er,  daß  jeder  Akt  der  äußern  Em- 
pfindung von  dem  Sichbewußtwerden  durch  den  Innern  Sinn 
begleitet  sei.  Bei  dieser  Gelegenheit  (2.  Teil  der  Fra^e  78) 
macht  er  die  allgemeine,  treffende  Bemerkung,  daß  wir 
vieles  mit  den  äußern  Sinnen  wahrzunehmen  meinen,  was  tat- 
sächlich nur  der  innere  Sinn,  besonders  das  Gedächtnis,  wahr- 
nimmt. Das  gilt  in  etwa  von  den  Nachbildern.  So  meinen 
wir  beim  Schwingen  eines  brennenden  Holzscheites  mit  den 
Augen  einen  feurigen  Kreis  wahrzunehmen,  cum  tamen  visus 
in  nullo  uno  instanti  videat  illum  circulum,  sed  solum  unam 
partem  videt  post  aliam  sie,  quod  nunquam  duas  simul; 
sed  interior  sensus  illum  circulum  apprehendit  per  memo- 
riam  retinentem  praeterita  et  offerentem  recenter  acta  et 
Visa,  quasi  adhuc  fiant  et  videantur.  Dann  fügt  er  verall- 
gemeinernd bei:  innumera  etiam  alia  sunt,  quae  a  solo  sensu 
interiori  apprehenduntur  vel  aestimantur,  quae  tamen  sen- 
sibus  ascribuntur  particularibus  propter  intimitatem  illius 
cum  istis.  Sogar  die  Bedeutung  der  Assoziation  und  der 
Gewöhnung  für  die  Tiefenwahrnehmung,  die  erst  die  moderne 
experimentelle  Psychologie  genau  beschrieben  hat,  die  aber 
bereits  Alhazen,  Witelo  und  andere  mittelalterliche  Denker 


96  10.  Kapitel 

im  allgemeinen  kannten '),  findet  sich  bei  Olivi  angedeutet, 
wenn  er  im  obigen  Zusammenhang  schreibt:  sie  intime  sentit 
[sensus  interior]  eorum  [sc.  sensuum  particularium]  obiecta 
in  suis  locis,  quod  multi  proprii  actus  eins  videntur  esse 
proprii  actus  sensuum  particularium,  sicut  patet  cum  pic- 
turae  diversarum  vestium  et  membroriim  alicuius  imaginis 
videntur  nobis  varias  densitates  sibi  invicem  superpositas 
habere,  acsi  colores  imagines  essent  corpora  spissa;  quod 
ideo  nobis  videtur,  quia  aestimatio  sensus  interioris  sie  pro- 
bavit  in  hominibus,  quorum  sunt  imagines  illae. 

Prinzipiell  weiß  Olivi  auch  die  Bedeutung  der  Mathematik 
ftlr  die  Optik  zu  würdigen 2).  Wie  Alhazen^),  Grosseteste*) 
und  Bacon  ^)  kennt  er  die  Pyramide  oder  den  Strahlenkegel 
(q.  73,  2.  Teil).  Weiterhin  macht  er  zutreffende  Bemer- 
kungen über  die  Spiegelung  oder  Reflexion  (Katoptrik)  und 
die  Brechung  (Dioptrik).  Bei  der  Spiegelung  ist  der  Einfalls- 
winkel gleich  dem  Ausfallswinkel.  Beim  Übergang  von  einem 
dünnen  in  ein  dichteres  Medium  werden  die  virtuales  partes 
des  Strahles  zerstreut  —  es  ist  der  moderne  Gedanke  der 
verschiedenen  Brechbarkeit  der  verschiedenen  Farben  — , 
deshalb  erscheint  der  minimus  visus  im  Wasser  größer  als 


1)  Baeuraker,  Witelo,  630  ff. ;  Bauer,  Die  Psychologie  Alhazens, 
S.  65;  Fröbes,  Aus  der  Vorgeschichte. 

2)  Vgl.  Baur,  Grosseteste,  besonders  S.  93 ff.,  Baur  stellt  dort 
mit  Herbeiziehung  vieler  Stollen  einen  lehrreichen  Vergleich  an  zwi- 
schen Grosseteste  und  Bacon,  der  bekanntlich  so  nachdrücklich  die 
Forderung  mathematischen  Denkens  für  die  Erklärung  der  Natur- 
vorgänge vertrat;  vgl.  auch  Bauer,  Die  Psychologie  Alhazens,  S.  6 ff. 
Daß  die  Scholastik  mehr  Verständnis  für  die  ^Notwendigkeit  des 
mathematischen  Verfahrens  zeigte,  als  man  bislang  wußte,  hat  die 
neuere  Forschung  bewiesen.  Baumgartner  hat  in  seiner  vorzüglichen 
Neubearbeitung  des  Ueberwegschen  Grundrisses  die  Ergebnisse  kurz 
zusammengefaßt  und  auf  die  ersten  Quellen  und  monographischen 
Darstellungen  verwiesen  (vgl.  besonders  §  36  u.§43).  Selbst  die  An- 
wendung des  Mos  geometricus  auf  die  Metaphysik  verlangten  im  12. 
Jahrhundert  nach  dem  Vorbild  des  Boethius  Denker  wie  Alauns  von 
.Lille  und  Nicolaus  von  Amiens.     (Ueberweg- Baumgartner,  S.  326f.). 

3)  Vgl.  Bauer,  Die  Psychologie  Alhazens,  S.  16,  23. 

4)  Baur,  Grosseteste,  S.  107  ff. 

5)  Commun.  nat.,  I  5;  De  multiplicatione  specierum  V  3. 


DaB  Binnliche  Erkennen  97 

er  ist,  deshalb  erscheint  auch  das  Ruder,  das  halb  im  Wasser 
ist,  gebrochen.  Umgekehrt  werden  beim  Übergang  in  ein 
dünneres  Medium  die  virtuales  partes  gegen  die  Axe  zu  ge- 
eint (q.  73,  1.  Teil). 

Es  folgen  im  2.  Teil  der  Frage  73  eine  Reihe  von  Bei- 
spielen, die  prinzipiell  den  Anteil  des  subjektiven  Faktors 
an  den  Wahrnehmungen  dartun  sollen.  Wie  die  Texte 
lauten,  kann  man  sie  naiv  oder  auch  modern  im  Sinn  der 
heutigen  Psychologie  deuten  ^).  Es  ist  hier  in  psychologi- 
scher Hinsicht  ähnlich  wie  vorhin  —  vgl.  den  Anfang  des 
5.  Kapitels  —  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  beim  Be- 
griff der  Wahrheit,  wo  Naives  und  Kritisches  unmittelbar 
neben  einander  stehen.  Nur  ein  fachmännisch  geschulter 
experimenteller  Psychologe  wäre  imstande,  den  Wert  und 
die  Wertlosigkeit  der  Sätze  Olivis  zu  scheiden.  Ich  begnüge 
mich  deshalb  damit,  auf  diese  Stellen  hinzuweisen:  es  mag 
dann  ein  Fachmann  an  der  Hand  des  bald  erscheinenden 
Textes  die  geschichtliche  Bedeutung  Olivis  in  diesem  Lehr- 
punkt herausarbeiten. 

Endlich  möge  in  diesem  Kapitel  noch  erwähnt  werden, 
daß  im  Zusammenhang  mit  dem  Sehen  beachtenswerte  Be- 
merkungen über  den  teleologischen  Bau  des  Auges  und 
seiner  einzelnen  Teile  gemacht  werden.  Sie  sind  offenbar 
der  Optik  Alhazens^)  entnommen.  Dabei  wird  die  Einheit 
des  binokular  wahrgenommenen  Objektes  so  erklärt:  nervi 
sensitiv!  habent  radicalem  unitatem  in  sua  origine,  puta, 
circa  cerebrum  et  etiam  in  corde ;  et  hinc  est,  quod  potentia 
visiva  radicaliter  figitur  in  una  radice  duorum  nervorum  ad 
duos  oculos  protensoriim^). 

1)  So  urteilt  mein  Kollege  P.Jos.  Fröbes,  dem  ich  auch  an  dieser 
Stelle  für  mannigfache  Angaben  aus  seinem  Spezialgebiet,  der  ex- 
perimentellen Psychologie,  herzlich  danke. 

2)  Vgl.  Bauer,  Die  Psychologie  Alhazens,  S.  1 1  ff . ;  Baeumker, 
Witelo,  S.  610  ff. 

3)  Vgl.  Bauer,  Die  Psychologie  Alhazens,  8.  31. 


11.  Kapitel. 

Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennens. 

Es  entspricht  ganz  der  idealen,  metaphysischen,  in  die 
Tiefe  gehenden  Richtung  des  mittelalterlichen  Denkers,  wenn 
er  über  den  Vorgang  des  höheren  Erkennens  weit  Ausführ- 
licheres und  Bedeutsameres  zu  sagen  hat  als  über  den  des 
sinnlichen. 

Das  alles  beherrschende  Zentralproblem  bei  der  Dar- 
stellung der  Erkenntnispsychologie  ist  systematisch  und  ge- 
schichtlich betrachtet  die  Frage :  wie  verhält  sich  das  höhere 
Erkennen  in  seinem  Zustandekommen  zur  Erfahrung?  Drei 
Möglichkeiten  sind  a  priori  vorhanden  und  haben  tatsächlich 
in  der  Geschichte  der  Philosophie  ihre  Anwälte  gefunden.  Der 
Apriorismus  behauptet  ein  ursächlich  vollständiges  Unabhängig- 
und  Losgelöstsein  von  der  Erfahrung,  mag  das  nun  ein 
mehr  oder  minder  Angeborensein  im  Sinne  Piatons,  Des- 
cartes'.  Spinozas  oder  Leibniz'  oder  ein  unmittelbares  Schauen 
der  geistigen  Welt  sein,  wie  es  vor  allem  Augustinus  und  die 
von  ihm  beeinflußten  Denker,  etwa  die  Ontologisten,  an- 
nehmen. In  schroffem  Gegensatz  zu  diesem  Apriorismus 
behauptet  der  Empirismus,  der  folgerichtig  zu  Ende  geführt 
im  Sensualismus  endet,  alles  Denken  sei  nichts  weiter  als 
eine  Verarbeitung,  ein  Trennen  und  Zusammenfügen  von 
Wahrnehmungselementen,  derart  daß  der  Verstand  im  we- 
sentlichen nicht  mehr  in  ihnen  sieht  als  der  Sinn.  In  der 
Mitte  zwischen  diesen  beiden  extremen  Auffassungen  stehen 
jene  Theorien,  die  zum  Zustandekommen  eines  geistigen 
Denkaktes,  zur  Herausarbeitung  eines  Gedankendinges  un- 
bedingt einen  sinnlichen  und  geistigen  Faktor  verlangen, 
einerlei  wie  sie    das  Zusammenwirken   beider  im  einzelnen 


Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennen» 


durchführen.  Nach  ihnen  beginnt  alle  Erkenntnis  mit  den 
Sinnen  „nihil  est  in  intellectu,  quod  non  fuerit  in  sensu'', 
aber  —  und  das  bedeutet  die  schärfste  Absage  an  den  Em- 
pirismus —  der  Verstand  sieht  in  dem  Yorstellungsbild 
wesentlich  Neues  und  Höheres  als  der  Sinn,  z.  B.  das 
Dingsein,  die  Substantialität,  die  Beziehungen.  Die  reinste 
Form  dieses  Mittelweges  tritt  uns  in  der  Abstraktionslehre 
des  Aristoteles  und  der  in  seinen  Bahnen  wandelnden  Hoch- 
Scholastik,  namentlich  des  hl.  Thomas,  entgegen.  Auch  Kant 
ist  hierhin  zu  zahlen,  wenn  er  in  jeder  Erkenntnis  den  ge- 
gebenen sinnlichen  Eindruck  und  die  apriorische  Form  oder 
die  Rezeptivität  des  Sinnes  und  die  Spontaneität  des  Ver- 
standes unterscheidet. 

Zu  welcher  der  drei  Richtungen  zählt  nun  Olivi?  Wenn 
er  auch  seiner  Grundauffassung  nach  der  mittleren  anzu- 
gehören scheint,  so  hat  er  doch  starke  Einwände  gegen 
die  spezielle  Form  derselben,  wie  sie  ihm  in  der  Aristote- 
lischen Abstraktionslehre  entgegentrat,  vorzubringen.  Seine 
eigene  Theorie  sodann  vom  Zusammenwirken  von  Sinn  und 
Verstand  arbeitet  er  nicht  systematisch  bis  in  ihre  letzten 
Einzelheiten  durch. 

Unsere  Darstellung  hat  demnach  mit  geschichtlicher 
Treue  zunächst  die  verschiedenen  Seiten  seiner  zerstreuten 
Angaben  darzulegen  und  zuletzt  diese  verschiedenen  Ge- 
dankenmotive zur  Einheit  des  Gesamtbildes  synthetisch  zu 
verarbeiten.  Diese  genetische  Methode  gestattet  dem  Leser, 
die  Einzelstellen  auf  ihren  Beweiswert  und  damit  auch 
die  Grundthese  auf  ihre  Richtigkeit  nachzuprüfen.  Unsere 
Ausführungen  werden  also  folgenden  "Weg  einschlagen: 
zuerst  ist  der  Nachweis  zu  fuhren,  daß  nach  Olivi  die 
höhere  Erkenntnis  mit  der  Erfahrung  beginnt  oder  sie  wenig- 
stens voraussetzt ;  positiv  geschieht  das  durch  die  Diskussion 
der  diesbezüglichen  Stellen,  negativ  durch  seine  kritische 
Auseinandersetzung  mit  der  Augustinischen  Einstrahlungs- 
theorie. Darauf  ist  zu  zeigen,  daß  und  wie  der  Verstand 
als  eine  spezifisch  höhere  oder  geistige  Seelenkraft  mit  Hilfe 
des  so  gewonnenen  Erfahrungsmaterials  zur  Erkenntnis  des 
Übersinnlichen   vordringt;    dabei   wird   negativ  die  Spezies- 


100  11.  Kapitel 

lehre  des  Aristoteles  und  Thomas  abgelehnt  und  positiv  das 
Motiv  der  Aristotelisch-thomistischen  Abstraktionstheorie  mit 
dem  Augustinischen  Grundgedanken  von  einem  unmittel- 
baren Schauen  geistiger  Realitäten  verknüpft.  So  sehen 
wir,  wie  Olivi  auch  in  diesem  Einzelpunkt  in  ganz  eigen- 
artiger Weise  Aristotelismus  und  Augustinismus  ausgleicht ; 
und  so  finden  wir  schließlich  in  seiner  Erkenntnislehre  die 
allgemeinen  Züge  seiner  Philosophie  und  seines  Philosophie- 
rens wieder.  Wenn  den  Leser  in  der  Wiedergabe  der  in 
Frage  stehenden  Lehre  Unklarheiten,  Unausgeglichenheiten 
und  Lücken  zu  stören  scheinen,  so  möge  er  für  diesen  Übel- 
stand nicht  bloß  den  Historiker,  sondern  auch  Olivi  selbst 
verantwortlich  machen,  an  dessen  Materialien  jener  ge- 
bunden ist. 

Daß  die  höhere  Erkenntnis  von  der  Erfahrung  ausgeht 
oder  sie  doch  voraussetzt,  wird  im  Vaticanus  nirgends  ex 
professo  behandelt,  aber  gelegentlich  ausgesprochen.  So 
heißt  es  im  ersten  Teil  der  q.  74:  quia  nullum  sensibile  et 
praecipue  quantitas  et  figura  et  situs  non  potest  a  nostro 
intellectu  intelligi  aut  cogitari.  nisi  per  actum  imaginationis 
vel  sensus  communis  sibi  praesententur :  idcirco  memorialis 
species  ipsius  intellectus  non  potest  aliquod  sensibile  suffi- 
cientei'  intellectui  repraesentare,  nisi  subnectatur  et  coas- 
sistat  ei  actus  imaginationis  vel  sensus  communis.  Unde 
eti^m  universales  species  sensibilium  non  potest  eogitare 
nisi  cogitando  aliquod  particulare  vagum  vel  signatum  per 
actum  imaginationis  vel  sensus  communis  sibi  praesentatum . . ., 
unde  potius  abstrahitur,  distinguendo  rationem  eins  a  ratio- 
nibus  individualibus  sibi  adiunctis  quam  separando  ipsum 
ab  illis. 

Im  vierten  Teil  derselben  Frage  heißt  es:  anima  non 
potest  novas  [cognitiones]  fingere  seu  formare  nisi  ex  primis^ 
quas  traxit  a  rebus  expertis  per  earum  actualem  visionem 
seu  experientiam,  prout  dicit  Augustinus  XI  De  Trinitate 
capitulo  10^)  et  in  prima  epistola  ad  ISTebridium^),  ubi  quae- 
rens,  unde  venit  ut  quae  non  videmus  cogitemus,  respondet, 

1)  De  Trinit.,  XII  10. 

2)  Epist..  das«*,  l.  ep.  VII  cap.  3  n.  6. 


£V  PL;. 

ORONTO  6.  CANADA, 


Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennens  101 

quod  anima  habet  vim  addendi  et  minuendi  speciebus  me- 
morialibus,  quas  per  sensus  accepit.  Caeci  vero  nati  nihil 
de  luce  vel  coloribus  possunt  proprie  intelligere  vel  imagi- 
nari,  quia  nullam  primam  speciem  lucis  et  coloris  per  actus 
sensuum  acceperunt.  Vocat  autem  addere,  quod  unum  sen- 
sibile  sine  altero  sentitum  iungimus  simul,  ut  cum  imagina- 
mur  montem  aureum  A^el  corpus  humanuni  cum  capite  bovine 
et  sie  de  aliis  .  .  .,  minuere  autem  sumitur  per  modos  con- 
trarios,  scilicet  iuncta  separando  aut  maiori  quantitati  partes 
aliquas  subtrahendo  aut  unum  in  plura  dividendo  .  . .  Huius- 
modi  autem  compositiones  vel  divisiones  primo  sunt  et  fiunt 
in  acie  cogitantis  et  varias  species  memoriae  simul  aspicientis 
et  conferehtis. 

In  q.  76,  welche  die  Selbsterkenntnis  der  Seele  behan- 
delt, scheint  Olivi  bei  nur  oberflächlicher  Lesung  seiner 
Ausführungen  das  Gegenteil  zu  sagen,  er  lehrt  nämlich  mit 
Augustin  ein  unmittelbares,  intuitives  Erfassen  der  Seelen- 
substanz. Tatsächlich  wird  auch  in  diesem  Fall  das  allge- 
meine Prinzip,  daß  alle  Erkenntnis  mit  der  Erfahrung  be- 
ginnt, gewahrt.  Nur  braucht  es  nicht  notwendig  die  äußere 
zu  sein,  es  kann  auch  die  innere  im  Sinn  Lockes  sein: 
primus  [modus  se  ipsam  cognoscendi]  est  per  modum 
sensus  experimentalis  et  quasi  tactualis.  Et  hoc  modo  indu- 
bitabiliter  sentit  se  esse  et  vivere  et  cogitare  et  velle  et 
videre  et  audire  et  se  movere  corpus  et  sie  de  aliis  actibus 
suis,  quorum  seit  et  sentit  se  esse  principium  et  subiectum. 
Es  ist  die  einfache  Erfahrungstatsache,  daß  wir  uns  bei 
allen  psychischen  Akten  unsers  Ich  bewußt  werden.  Die 
ganze  Aufzählung  will  offenbar  keine  geordnete  Reihe  auf- 
stellen, sondern  nur  zwanglos  die  einzelnen  Seelentätigkeiten 
registrieren.  Der  einleitende,  ganz  allgemein  lautende  Satz 
„primus  est  per  modum  sensus  experimentalis  et  quasi  tac- 
tualis" ist  im  Gegenteil  ein  neuer  Beleg  ftlr  die  Richtigkeit 
der  Behauptung,  daß  nach  Olivi  alle  höhere  Erkenntnis  die 
Erfahrung  voraussetzt. 

Weit  entschiedener  noch  als  im  Vaticanus  beginnt  in 
den  beiden  Borghese-Kodizes,  ganz  im  Sinn  und  mit  förm- 
licher Berufung  auf  Aristoteles,  alles  Erkennen  mit  den  Sinnen. 


102  11.  Kapitel 

So  heißt  es  in  der  Lösung  der  12.  Objektion  der  ersten 
Frage:  non  solum  per  causam  vel  per  effectum  possumus 
aliquid  certitudinaliter  scire,  sed  etiam  per  inductionem  et 
experientiam ;  per  hoc  enim  rationes  primorum  principiorum 
accipimus,  sicut  dicit  Aristoteles  I.  Ethicorum  et  in  Posterio- 
ribus  suis^).  Fügen  wir  die  Andeutungen  in  der  Lösung 
der  23.  Objektion  hinzu,  so  haben  wir  eine  förmliche,  in  sich 
geschlossene  Wissenschaftslehre  more  geometrico  wie  bei 
Boethius,  Mcolaus  v.  Amiens,  Descartes  und  Spinoza:  cer- 
tificatio  iudicii  per  aliquod  obiectum  fixum  potest  in  nobis 
esse  eodem  modo,  quo  de  conclusionibus  iudicamus  per 
principia  prius  a  nobis  cognita.  Et  sie  oportet,  quod  omne 
obiectum,  quod  de  se  non  est  certum,  ex  relatione  ad  aliud 
obiectum,  quod  de  se  est  certum,  certitudinem  accipiat. 
Obiectum  autem,  quod  de  se  est  certum,  sicut  sunt  prima 
principia,  non  oportet,  quod  per  aliud  certificetur. 

In  der  Lösung  der  10.  Objektion  heißt  es :  speciem 
quaestionis,  si  est  et  quid  est  et  consimilium,  formamus  ex 
iis,  quae  ex  rebus  apprehendimus,  scilicet  ex  apprehensione 
creati  et  aliarum  conditionum  realium. 

Im  Corpus  der  zweiten  Frage  wird  sogar  sehr  genau 
die  Aristotelische  Abstraktionslehre  wiedergegeben  und  ver- 
teidigt. Die  Augustinische  Erkenntnislehre,  die  Olivi  rein 
äußerlich  hält,  schränkt  er  darauf  ein,  daß  sie  nicht  gegen 
diö  Tatsache  verstoße,  daß  der  Mensch  nicht  sine  speciebus 
creatis  a  rebus  abstractis  posset  ab  initio  et  absque  doc- 
trina  intelligere  .  .  .  Etiam  rationes  generales  entium  non 
possumus  apprehendere  sine  apprehensione  particularium 
aut  sine  praevio  usu  sensuum  et  sine  speciebus  ab  eis  ab- 
stractis. 

Folgerichtig  zu  dieser  positiven  Ableitung  der  höheren 
Erkenntnisse  aus  der  Erfahrung  wird  negativ  die  Augusti- 
nische Einstrahlungslehre  völlig  aufgegeben.  Diese  Preis- 
gabe ist  bei  der  treuen  Gefolgschaft,  die  Olivi  sonst  seinem 
hochverehrten  Führer  Augustin  leistet,  von  großer  Bedeu- 
tung.    Darum  beriefen  wir  uns  auf  sie,  als  auf  ein  wichtiges 


1)  Eth.,  I  7,  1098b  3;  Anal,  post.,  II  19,  99b  3  sq. 


Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennens  103 

inneres  Kriterium  der  Einheit  des  Verfassers  sowohl  des 
Vaticanus  als  der  Borghese-Kodizes.  Wie  dort  angedeutet 
wurde,  wird  im  Vaticanus  der  theologische  Apriorismus  des 
hl.  Augustin  nur  gelegentlich  gestreift  und  abgelehnt.  So 
heißt  es  in  q.  38,  an  angeli  in  primo  instanti,  quo  meruerint, 
fuerint  glorificati :  ulterias  dicendum,  quod  beatus  Augustinus 
tamquam  in  parte  sequens  dogma  Platonicum  —  eine  gute 
geschichtlich-kritische  Bemerkung,  genau  wie  bei  Behandlung 
der  Augustinischen  Emissionstheorie  —  credidit  omnem  in- 
tellectum  in  actu  intelligentiae  immediate  illustrari  a  luce 
aeterna  et  immediate  contueri  aliquas  aeternas  regulas  eius 
ac  deinde  cetera  in  regulis  illis  .  .  .  Nos  autem  —  eine  poin- 
tiert scharfe  Ablehnung  —  sequentes  sententiam  Dio- 
nysii  et  etiam  Scripturae  sacrae  .  .  .  pro  certo  tenemus,  quod 
nullus  angelus  vidit  facialiter  Deum. 

Auf  die  diplomatische  Taktik  der  Borghese-Kodizes  in 
dieser  Frage  wurde  in  anderm  Zusammenhang  bereits  hin- 
gewiesen^). Mit  offensichtlicher  Entrüstung  wird  die  Tho- 
mistische  Erklärung  Augustins,  die  Olivi  überaus  getreu 
wiedergibt  und  die  freilich  dem  geschichtlichen  Tatbestand 
nicht  gerecht  wird,  zurückgewiesen :  modus  autem,  quo  Au- 
gustini dicta  exponunt,  etiam  modicum  iutelligenti  faciliter 
apparere  potest,  quia  non  sapit  mentem  Augustini ^j.  Gleich 
darauf  beteuert  der  Verfasser  äußerst  autoritätsfürchtig, 
Augustin  in  der  Frage,  an  rationes  aeternae  sint  nostro  in- 
tellectui  ratio  intelligendi  ömnia  et  an  lux  increata  irradiet 
intellectum  nostrum  quadem  speciali  irradiatione  in  omni 
actu  intelligendi,  folgen  zu  wollen:  in  prima  autem,  quam 
sine  errore  magis  sequi  desidero,  quia  est  magistrorum  non 
minus  solemnium  nee  minus  catholicorum,  ut  sine  errore 
possit  sane  intelligi,  tria  ex  parte  rationum   aeternarum   vi- 


1)  Siehe  Kap.  2  S.  17  ff;  Kap.  3  S.  28  f. 

2)  Zur  Deutung  der  dunklen  Augustinischen  Brkenntnislehre 
siehe  Portalie  im Dictionnaire  de  theologie  catholique  unter  Augustin; 
Joli.  Hessen,  Die  Begründung  der  Erkenntnis  nach  dem  hl.  Augu- 
stinus (Beiträge,  XIX  2),  1916;  derselbe,  Die  unmittelbare  Grottes- 
erkenntnis nach  dem  hl.  Augustinus,  Paderborn  1919;  v.  Hertling, 
Augustinus-Zitate  bei  Thomas  v.  Aquin,  S.  576 ff. 


104  11.  Kapitel 

dentur  mihi  cavenda,  scilicet  circa  modum  informandi,  circa 
modum  repraesentandi  et  circa  modum  cooperandi.  Darnach 
folgt  eine  weit  ausholende  Yermahnung:  ex  parte  etiam 
intellectus  cavendum  est,  ut  non  auferatur  sibi  possibilitas 
vere  et  certitudinaliter  iudicandi  et  intelligendi. 

Diese  ganzen  Ausführungen  sind  durchaus  vom  Aristo- 
telisch-thomistischen  Standpunkt  aus  gehalten  und  gehören 
in  ihrer  kritischen  Schärfe  zu  dem  Besten  der  Scholastik. 
In  ihrer  Ausführlichkeit  und  in  ihrem  Eoichtum  an  Motiven 
bringen  sie  sogar  viele  neue  Gesichtspunkte  über  Thomas 
hinaus,  dessen  philosophische  Eigenart  sich  im  übrigen  in 
seiner  Erkenntnislehre  vielleicht  am  reinsten  ausprägt^). 
Interessant  liest  sich  die  Lösung  der  22.  Objektion  der  ersten 
Frage:  dicendum,  quod  illuminatione  naturali  Dens  omnem 
hominem  illuminat  dando  sibi  lumen  intellectuale  seu  po- 
tentiam  intellectivam  proponendo  obieeta,  ex  quorum  aspectu 
et  intelligentia  sive  Dei  sive  rerum  illuminari  potest ;  neque 
enim  infantes  aliter  illuminat,  cum  tunc  actu  nihil  intelligant. 
Das  sagt  Olivi  fast  wörtlich  wie  Thomas  2),  über  dessen  Ver- 
gewaltigung der  Augustinischen  Texte  er  sich  förmlich  ent- 
rüstet. 

Nach  Erledigung  des  ersten  Punktes,  daß  nämlich  das 
geistige  Erkennen  auf  das  sinnliche  folgt,  ist  zweitens  zu 
zeigen,  daß  und  wie  der  Verstand  als  eine  spezifisch  gei- 
stige Seelenkraft  mit  Hilfe  des  so  gewonnenen  Erfahrungs- 
materials zur  Erkenntnis  des  Übersinnlichen  vordringt.  Daß 
der  Verstand  eine  wesentlich  höhere,  eine  immaterielle 
Fähigkeit  ist,  wird  überall  in  Olivis  Ausführungen  über  die 
Erkenntnis  als  selbstverständlich  vorausgesetzt;  in  q.  52 
aber,  die  von  der  Unsterblichkeit  der  Seele  handelt,  in  q.  56, 
die  sogar  die  spezifische  Einheit  des  menschlichen  Geistes 
mit  den  reinen  Geistern  behauptet,  und  in  q.  67,  die  eigens 
die  Verschiedenheit  des  Verstandes  von  den  sinnlichen  Er- 
kenntniskräften untersucht,  wird  dies  in  überzeugender 
Weise    dargetan.     Daß    sich    weiterhin    für   Olivi    das    Ver- 

1)  Jansen,  Die  wissenschaftliche  Eigenart  des  Aquinaten  (Stimmen 
der  Zeit,  98  Bd.  [19201  S.  453). 

2)  S.  th.,  T  q.  84  a.  5. 


Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennen»  105 

standeserkennen  nicht  empiristisch  im  Sinn  eines  Locke, 
Hume  oder  Condillac  auf  das  weitere  Verarbeiten,  d.  h. 
Trennen  und  Zusammenstellen  der  Erfahrungselemente  be- 
schränkt, liegt  dem  mittelalterlichen,  hochfliegenden  Meta- 
physiker  und  Spiritualisten  so  fern,  daß  eine  solche  Vor- 
stellung ihm  kaam  hätte  kommen  können. 

Weit  dunkler  dagegen  ist  in  Olivis  Darlegungen  der 
Übergang  von  der  sinnlichen  Erfahrung  zum  Übersinnlichen. 
Zwischen  der  Auffassung  der  Borghese-Kodizes  und  der  des 
Vaticanus  herrscht  zudem  keine  Einstimmigkeit.  Offenbar 
ist  jene  die  frühere,  ganz  an  fremde  Autorität  sich  anleh- 
nende und  diese  die  spätere,  selbständige  Auffassung,  in 
der  freilich  Augustinisch-aristotelische  Motive  weiter  arbeiten. 
Die  ältere  Theorie  ist  eindeutig  bestimmt,  wenn  wir  sagen, 
sie  sei  vollständig  Aristotelisch-thomistisch. 

An  dieser  Stelle  seien  nur  die  Untersuchungen  'über  den 
Intellectus  agens  und  possibilis  und  die  wiederholte  Beto- 
nung der  Species  impressa  hervorgehoben,  da  jene  Unter- 
scheidung im  Vaticanus  wegfällt,  die  Species  aber  durch 
die  Colligantia  potentiarum  ersetzt  werden.  Diese  beiden 
Punkte  bedeuten  die  wesentlichste  Abweichung  des  Vaticanus 
von  der  älteren  Auffassung  in  den  Borghese-Kodizes.  So 
referiert  Olivi  hier  beistimmend :  ab  omnibus  ponentibus 
species  secundum  viam  Aristotelis  ponitur,  quod  intellectus 
constituitur  in  actu  primo  per  huismodi  species,  ita  quod 
sine  eis  est  tantam  in  potentia  passiva  respectu  actus  intel- 
ligendi  .  .  .  Volunt,  quod  intellectus  noster  possibilis  sine 
speciebus  seu  rationibus  intelligendi  non  possit  intelligere 
et  quod  per  eas  tamquam  per  formas  suas  exeat  in  actum 
intelligendi. 

Anders  im  Vaticanus.  Freilich  sind  die  Dinge  hier  ziem- 
lich verwickelt  und  teilweise  unklar.  Die  zwei  wesentlichen 
Punkte  der  hier  vorgetragenen  Theorie  sind  indes  eindeutig 
bestimmt.  Einmal  setzt,  wie  vorhin  ausgeführt,  die  höhere 
Erkenntnis  die  Erfahrung  voraus,  zweitens  vermittelt  den 
Übergang  von  der  Sinnes-  zur  Verstandeserkenntnis  die 
Colligantia  potentiarum.  Die  Species  impressa,  ebenso  wie 
die    Unterscheidung    des    Intellectus    agens    und    possibilis 


106  11.  Kapitel 

scheiden  demnach  aus;  der  Erkenntnisakt  als  Darstellung 
des  Sachverhaltes  ist  die  Species  oder  Similitudo  obiecti, 
d.  h.  die  Species  expressa  der  Aristoteliker. 

Dagegen  wollen  sich  folgende  Seiten  nur  schwer  zu 
einander  fügen.  Einmal  wird  die  Aristotelische  Erklä- 
rung scharf  bekämpft,  in  der  76.  Frage  über  die  Selbst- 
erkenntnis der  Seele  wird  sodann  im  Anschluß  an  Augu- 
stinus und  Anselm  die  unmittelbare  Schau  ihres  Wesens 
gelehrt :  seit  se  per  essentiam,  id  est,  per  aspectum  et  actum 
in  suam  essentiam  immediate  defixum.  Dazu  bilden,  sollte 
man  meinen,  jene  oben  angeführten  Stellen,  wonach  die  all- 
gemeinen Erkenntnisse  aus  den  Sinnenbildern  abstrahiert 
werden,  einen  offenbaren  Widerspruch,  so  heißt  es  z.  B. 
im  vierten  Teil  der  q.  74:  aniraa  non  potest  novas  [cogni- 
tiones]  fingere  seu  formare  nisi  ex  primis,  quas  traxit  a 
rebus  es!^ertis  per  earum  actualem  visionem  seu  experi- 
entiam. 

Als  Historiker  haben  wir  diese  Antinomie  zunächst  ge- 
treu darzulegen,  sodann  aus  ihren  geschichtlichen  und  psy- 
chologischen Voraussetzungen  heraus  begreiflich  zu  machen. 

Die  erste  Aufgabe  ist  nach  unsern  bisherigen  Ausfüh- 
rungen teilweise  bereits  erledigt.  Es  bleibt  noch  übrig,  den 
Nachweis  zu  führen,  daß  Olivi  im  Vaticanus  sich  anders  zur 
Aristotelischen  Erkenntnislehre  stellt  als  in  der  früheren 
Pe*riode  der  Borghese-Kodizes.  Darnach  hätte  er  also  eine 
Entwicklung  zu  größerer  Selbständigkeit  und  Loslösung  von 
der  Autorität  des  Stagiriten  durchgemacht,  ein  wissenschaft- 
licher Charakterzug,  der  sich  harmouisch  in  das  Gesamt- 
bild dieses  eigenartigen,  originellen  Scholastikers  einfügt. 
Sodann  ist  zu  zeigen,  daß  er  die  vorhin  dargelegte  CoUi- 
gantia-Theorie  nun  auch  tatsächlich  für  die  Entstehung  des 
höheren  Erkennens  dienstbar  macht.  Drittens  ist  im  fol- 
genden Kapitel  die  Selbsterkenntnis  der  Seele  ausführlich 
zu  erörtern,  das  Ergebnis  dieser  Untersuchungen  aber 
einstweilen  vorweg  zu   nehmen. 

Die  Aristotelische  Erkenntnislehre  wird  zunächst  in  q.  72, 
an  Corpora  in  spiritum  agere  possint,  im  üblichen  Conspec- 
tus    historicus   ausführlich   dargelegt   und    zwar    unter   dem 


Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennens  107 

besondern  Gesichtspunkt,  daß  die  Körper  durch  Vermittlung 
des  Phantasma  und  des  Intellectus  agens  auf  den  Inteilectus 
possibilis  einwirken  können.  Es  ist  eine  getreue  und  genaue 
Wiedergabe.  Zu  dieser  Erklärung  wird  die  Augustinische 
in  scharfen  Gegensatz  gestellt.  Nach  dieser  geschichtlichen 
Einleitung  beginnt  Olivi  die  systematische  Darlegung  des 
eigenen  Standpunktes  mit  den  Worten:  sustinendo  igitur 
hanc  opinionem  Augustini.  Also  gibt  er  die  Aristotelische 
Abstraktionstheorie  preis,  da  sie  mit  der  Augustinischen  Auf- 
fassung unvereinbar  ist.  In  q.  74,  an  principium  effectivum 
actus  cognitivi  sit  species  repraesentativa  obiecti  aut  habitus 
aut  potentia  aut  utrumque  simul,  wird  ein  sonderbares,  aus 
Wahrem  und  Falschem  gemischtes  Bild  der  Aristotelischen 
Lehre  gegeben,  von  dem  sich  unmittelbar  anschließend  die 
Augustinische  scharf  abhebt.  Wiederum  beginnt  das  Corpus 
quaestionis:  id,  in  quo  certius  est  locutus  [sc.  Augustinus], 
pro  meo  modulo  prosequens.  Der  Gegensatz  zu  Aristoteles 
ist  damit  gegeben.  In  q.  58  bei  Widerlegung  der  13.  Ob- 
jektion wird  die  Theorie  der  Abstraktion  des  Geistigen  aus 
dem  Sinnlichen  direkt  widerlegt  ex  parte  irradiationis  et 
ex  parte  ipsius  formae  corporalis  seu  imaginariae  et  ex  parte 
potentiae  intellectualis  et  sui  actus.  Somit  dürfte  dieser 
Punkt  genügend  aufgehellt  sein. 

Daß  der  Übergang  vom  niederen  zum  höheren  Erkennen 
auf  dem  Wege  der  Colligantia  erfolgt,  wird  in  dieser  prä- 
zisen Formulierung  nirgends  gesagt,  ergibt  sich  aber  aus 
dem  ganzen  Zusammenhang  mit  eindeutiger  Klarheit.  Der 
ganze  Abschnitt,  in  dem  q.  72 — 76  stehen,  handelt  von  der 
Erkenntnis.  Er  trägt  freilich  die  allgemeine  Überschrift :  de  acti- 
bus  et  habitibuspotentiarumanimae.  tatsächlich  aber  werden 
im  Verlauf  der  Ausführungen  vornehmlich  die  Akte  und 
Habitus  des  Erkennens  behandelt ;  zudem  ist  das  höhere  und 
niedere  Strebevermögen  mit  seinen  Akten  bereits  vorher 
eingehend  behandelt  worden,  das  höhere  in  qq.  57 — 59, 
das  niedere  in  qq.  68 — 70.  Wenn  also  in  q.  72  allgemein 
gesagt  wird:  an  corpora  possint  agere  in  spiritum,  dann  ist 
es  zunächst  auf  das  Erkennen  abgesehen,  zumal  es  die 
Grundlage  aller   geistigen  Tätigkeit  bildet.     Nun  wird  aber 


108  11.  Kapitel 

im  ersten  und  zweiten  Teil  dieser  Frage  alle  unmittel- 
bare Einwirkung  des  Körperlichen  auf  Geistiges,  insbeson- 
dere auch  die  Irradiation  der  Phantasmata  bekämpft,  im 
dritten  Teil  aber  gezeigt,  quomodo  per  viam  naturalis  colli- 
gantiae  possit  aliquid  fieri  a  corpore  in  animam.  Nehmen 
wir  dazu  die  früheren  Feststellungen,  vor  allem  den  Aus- 
gang aller  höheren  Erkenntnis  von  der  Erfahrung,  so  ergibt 
sich  die  Wahrheit  unserer  Behauptung,  daß  den  Übergang 
vom  sinnlichen  zum  höheren  Erkennen  die  CoUigantia  der 
niederen  und  höheren  Kräfte  in  der  Materia  spiritualis  als 
dem  alles  bewußte  Geschehen  verknüpfenden  Band  vermittelt. 
—  Daß  die  Spezies  in  q.  74  so  entschieden  abgelehnt  werden, 
daran  muß  der  Vollständigkeit  halber  an  dieser  Stelle  noch- 
mals erinnert  werden. 

Wenn  Olivi  trotz  alledem  in  den  späteren  Fragen  des 
Vaticanus  die  Abstraktionslehre  wieder  einführt,  so  geschieht 
das  nur  nebenbei,  wie  verstohlen  durch  eine  dunkle,  fast 
unbemerkbare  Seitentür;  der  Ausgang  aller  Erkenntnis  von 
der  Erfahrung  wird  nur  nebenbei  und  ganz  gelegentlich  ge- 
streift. Beide  Punkte  werden  in  q.  74  bei  Behandlung  einer 
andern  Frage  berührt.  Überdies  wird  dort  die  Abstrak- 
tion aus  dem  Phantasma  vielleicht  auf  das  Erfassen  allge- 
meiner Erfahrungsbegriffe  beschränkt,  auf  die  Erkenntnis 
positiv  immaterieller  Wesen  und  Vorgänge  findet  sie  viel- 
leicht keine  Anwendung:  nullum  sensibile  potest  a  nostro 
intellectu  intelligi  aut  cogitari,  nisi  per  actum  imaginationis 
vel  sensus  communis  sibi  praesententur  .  .  .  Unde  etiam 
universales  species  sensibilium  non  potest  cogitare  nisi  cogi- 
tando  aliquod  particulare  vagum  vel  signatum  per  actum 
imaginationis  vel  sensus  communis  sibi  praesentatum  (q.  74 
1.  Teil).  Nun  fährt  Olivi  fort:  nee  mirum,  quia  nee  aliquod 
universale  rerum  intellectualium  potest  intelligere,  nisi  simul 
cogitet  aliquod  particulare  vagum  vel  signatum  illius  uni- 
versalis, pro  eo  quod  universale  nihil  reale  ponit  nisi  in 
particularibus  suis.  Unde  potius  abstrahitur  distinguendo 
rationem  eins  a  rationibus  individualibus  sibi  adiunctis  quam 
separando  ipsum  ab  illis.  Würde  die  Aristotelische  Abstrak- 
tionstheorie   folgerichtig    durchgeführt,   so    müßte   man    hier 


Der  Verlauf  des  geistigen  Erkenn ens  109 

statt  „nisi  simiil  cogitet  aliquod  particulare  illius  univer- 
valis"  erwarten  „nisi  simul  cogitet  aliquod  particulare  sen- 
ßibile'*.  Nach  Aristoteles  i)  ist  nämlich  alles  Erkennen  vom 
Phantasma  begleitet.  Olivi  fordert  den  Worten  nach  diese 
Sinnenbilder  nur  für  die  Allgemeinbegriffe  von  Erfahrungs- 
gegenständen. Damit  stimmt  überein,  wenn  er  im  4.  Teil 
der  q.  74  mit  klarer  Anspielung  an  Thomas^)  das  bekannte 
Verbum  mentis  oder  den  abstrakten  Begriff  ablehnt,  den  der 
Verstand  nach  dem  Aquinaten  zuerst  bildet  und  in  dem,  wie 
Olivi  getreu  berichtet,  tamquam  in  speculo  intelliguntur  realia 
[individua]  obiecta.  Diese  Erklärung  gestattet  es  ihm,  zu 
behaupten,  daß  wir  die  Allgemeinbegriffe  rein  geistiger 
Wesen  aus  dem  Einzelbegriff  derselben  abstrahieren  und 
darum  für  deren  Herausarbeitung  stets  eines  individuellen 
Begriffsinhaltes  benötigen.  In  dieser  Annahme  würden  wir 
zur  Erkenntnis  der  positiv  geistigen  Welt  nicht  durch  Ab- 
straktion der  sinnlichen  gelangen,  sondern  sie  unmittelbar 
schauen,  sie  intuitiv  erfassen.  Diese  Annahme  würde  sich 
restlos  in  Olivis  sonstigen  Augustinismus  einfügen,  sie  würde 
vor  allem  den  Einzelfall  von  dem  unmittelbaren  Schauen 
der  Seelensubstanz  harmonisch  in  eine  allgemeine  Theorie  ein- 
fügen und  endlich  mit  der  uneingeschränkten  Ablehnung 
der  Aristotelischen  Abstraktionslehre  logisch  übereinstimmen. 
Wie  gesagt,  möglich  ist  diese  Beschränkung  der  Abstraktions- 
lehre auf  das  Herausarbeiten  bloßer  Erfahrungsbegriffe,  mit 
Ausschluß  der  Erkenntnis  positiv  geistiger  Gegenstände.  Gibt 
diese  Annahme  den  geschichtlichen  Tatbestand  wieder,  so 
ließe  sich  damit  nur  schwer  die  ganz  allgemein  gehaltene 
Behauptung  in  Einklang  bringen :  anima  non  potest  novas 
[cognitiones]  fingere  seu  formare  nisi  ex  primis,  quas  traxit 
a  rebus  expertis  per  earum  actualem  visionem  seu  experien- 
tiam.  Höchstens  müßte  man  die  Experientia  auf  die  äußere 
Erfahrung  beschränken  und  davon  die  innere  ausnehmen, 
wie  tatsächlich  in  Frage  76  äußere  und  innere  Erfahrung 
im  Sinne  Lockes  deutlich  unterschieden  wird.  Dann  wäre 
der  Abstand  des  Vaticanus    von    der   älteren  Borghese-Auf- 

1)  De  anima,  III  7,  431  a  17;  III  8,  432  a  8. 

2)  S.  th.,  I  q.84  a.  7;  q.  85  a.  1-3. 


HO  11.  Kapitel 

fassung  noch  größer,  denn  nach  dieser  ist  alles  Erkennen 
in  echt  mathematischer  Weise  letztlich  auf  durch  sich  selbst 
einle achtende  Prinzipien  zurückzuführen,  die  ihrerseits  aus 
der  Erfahrung  abstrahiert  sind. 

Diese  Darlegungen  dürften  ein  anschauliches  Bild 
geben  von  dem  Bingen  Olivis  um  die  Lösung  eines  der 
schwierigsten,  tiefsten  und  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie umstrittensten  Probleme.  Sie  zeigen,  daß  er  wie  alle 
großen  Denker,  namentlich  ein  Piaton,  Aristoteles,  Thomas, 
Leibniz  und  Kant,  zur  Fragestellung  in  Anlehnung  an  die 
Ergebnisse  seiner  Vorgänger,  besonders  des  Aristoteles  und 
Augustinus,  gelangt  ist,  daß  er  das  Bedeutsame  der  früheren 
Lösungen  sich  zuerst  mehr  rezeptiv  zu  eigen  macht,  um 
dann  schöpferisch  aus  deren  Thesis  und  Antithesis  eine 
neue,  selbständig  ausgedachte  Synthese  zu  gewinnen.  Frei- 
lich ergeht  es  ihm  wie  vielen  andern,  ihm  überlegenen  Gei- 
stern, daß  er  kein  einheitliches,  widerspruchsfreies  System 
zu  schaffen  vermag:  unausgeglichen  bleiben  manche  von 
Fremden  herübergenommene  Gedankenmotive  neben  ein- 
ander bestehen.  Steht  auch  Olivis  Theorie  der  Bildung  der 
höheren  Erkenntnis  als  Ganzes  genommen  bis  jetzt  als  etwas 
durchaus  Eigenartiges  da,  so  erweist  sie  sich  doch  in  ihren 
Einzelzügen,  ja  sogar  ihrem  formalen  Grundcharakter  nach 
als  echtes  Kind  ihrer  Zeit.  Wie  wir  im  ersten  Kapitel  aus- 
geführt habendi,  ist  der  charakteristische  Zug  der  Erkennt- 
nislehre des  dreizehnten  Jahrhunderts  das  Bestreben,  die 
herrschende  Augustinische  und  die  neu  eindringende  Ari- 
stotelische Auffassung  mit  einander  in  Einklang  zu  bringen. 
Die  Unterschiede  in  den  einzelnen  Aufstellungen  sind  durch 
das  Festhalten  an  der  einen  oder  durch  das  fortschrittliche 
Bekenntnis  zur  andern  und  im  einzelnen  durch  das  Mehr 
oder  Weniger  Aristotelischer  bezw.  Augustinischer  Elemente 
bestimmt.  Nur  einer  hat  den  Weitblick,  die,  Spannkraft, 
die  Folgerichtigkeit  und  den  Mut,  den  Aristotelischen  Ge- 
danken sachlich  restlos  durchzuführen  und  ohne  ihm  irgend- 
wie Abbruch  zu  tun,   durch  Platonisch-augustinische  Motive 

1)  S.  3  ff. 


Der  Verlauf  des  geistigen  Erkennens  111 


ZU  ergänzen  und  zum  kühnen  Abschluß  zu  bringen :  der  un- 
übertroffene Systematiker  Thomas  v.  Aquin,  dessen  philo- 
sophiegeschichtliche Eigenart  und  spekulative  Kraft  gerade  in 
diesem  Lehrstück  am  reinsten  zum  Ausdruck  kommen  dürfte. 
Aber  selbst  dieser  unbefangene,  souveräne  Geist  zollt  der 
Methode  seiner  zu  autoritätsfürchtigen  Zeit  seinen  Tribut, 
wenn  er  in  der  äußern  Form  und  Darstellung  die  Position 
des  Augustinus  mit  geschichtlicher  Treue  wiederzugeben 
behauptet. 

So  ist  denn  Olivis  Haltung,  sein  Schwanken  und  Irren 
in  der  Theorie  von  der  Bildung  der  höheren  Erkenntnisse, 
die  bei  allem  Schiefen,  Halben  und  Unhaltbaren  doch  eine 
bedeutsame  spekulative,  schöpferische  Geisteskraft  verrät, 
dem  geschichtlich  denkenden  Forscher  aus  seiner  Zeit  heraus 
psychologisch  und  historisch  wohl  verständlich. 


12.  Kapitel. 

Die  Selbsterkenntnis  der  Seele, 

Von  spezielleren  Fragen  der  höheren  Erkenntnis  kommt 
vom  Vaticanus  für  den  Philosophen  nur  noch  die  q.  76 
über  die  Selbsterkenntnis  der  Seele  in  betracht.  Systema- 
tisch und  geschichtlich  wäre  die  Ablehnung  des  Thomisti- 
schen  Verbum  mentis  und  die  daraus  sich  ergebende  un- 
mittelbare Erkenntnis  des  Individuellen  von  Bedeutung. 
Bekanntlich  lehrt  der  Aquinate  in  folgerichtiger  Durchfüh- 
rung Aristotelischer  Andeutungen  und  Prinzipien,  daß  der 
menschliche  Geist  zuerst  das  Allgemeine  erkenne  oder  einen 
universellen  Begriff  formiere  und  daß  er  erst  nachträglich 
durch  Hinwenden  zum  konkreten  Einzelbild  des  äußeren 
Gegenstandes  den  Binzelbegriff  desselben  aus  eben  dieser 
sionlichen  Vorstellung  abstrahiere.  Dieser  Lehrpunkt  gehörte 
zu  den  am  meisten  bekämpften  Aufstellungen  seines  fort- 
schrittlichen Aristotelismus  ^).  Olivi  wendet  sich  getreu  der 
Augustinischen  Richtung  der  älteren  Pranziskanerschule, 
z.  B.  des  Correctoriums  des  Fr.  W.  de  la  Mare,  im  vierten 
Teil  der  q.  74  dagegen :  sciendum,  quod  quidam  ponunt 
quendam  conceptura  seu  verbum  per  considerationem  ab- 
stractivam  aut  iuvestigativam  seu  adinveutivam  formari,  in 
quo  tamquam  in  speculo  intelJigentur  realia  obiecta.  Hoc 
enim  vocant  primum  intellectum  et  immediatum  obiectum 
et  est  quaedam  intentio  et  conceptio  et  ratio  rerum.  Weil 
aber  Olivi  für  die  Ablehnung  dieses  Verbum,  ohne  weitere 
Diskussion,  einfachhin  auf  seine  Lectura  super  Johannem  ver- 
weist,   die    ebenso    wenig   wie    seine    andern    spekulativen 


1)  Vgl.  Kap.  1   S.  71. 


Die  Selbsterkenntnis  der  Seele  113 

Schriften  herausgegeben  ist,  so  müssen  wir  uns  ebenfalls 
mit  der  Feststellung  dieses  Lehrpunktes  begnügen. 

Ausführlicher  verbreitet  er  sich  über  die  Selbster- 
kenntnis der  Seele.  Bekanntlich  stand  diese  Frage  im  Kampf 
des  Augustinismus  mit  dem  Aristotelismus  im  Vordergrund 
des  Interesses  ^).  Olivi  spielt  darauf  in  der  Überschrift  deut- 
lich an,  wenn  er  beginnt :  ex  praedictis  facile  est  videre, 
quod  a  multis  laboriose  quaeritur  et  a  quibusdam  erronee 
pertractatur.  Für  die  Charakteristik  seiner  Erkenntnislehre 
aber  ist  sie  höchst  bezeichnend  und  ergiebig.  Die  eigen- 
artige Verquickung  Augustinischer  und  Aristotelischer  Ge- 
dankenmotive, die  in  seiner  Theorie  der  geistigen  Erkenntnis 
weiter  arbeitete,  ohne  zu  einer  einheitlichen  Synthese  zu 
gelangen,  findet  hier  wie  nirgend  anderswo  auf  engem  Raum 
ihren  bezeichnendsten  Ausdruck. 

Die  Frage  beginnt  mit  der  bereits  erwähnten  Einfüh- 
rung und  fährt  dann  fort:  quomodo  anima  sciat  se  ipsam^ 
an  scilicet  per  speciem  seu  essentiam  et  an  per  immediatam 
reflexionem  sui  aspectus  super  se  aut  primo  dirigendo  aspec- 
tum  ad  phantasmata,  id  est,  ad  species  imaginarias  per  actus 
sensuum  exteriorum  acceptas.  Man  kann  der  Formulierung 
gewiß  nicht  übermäßige  Klarheit  und  Kürze  vorwerfen. 

Zuerst  wird  über  die  Aristotelische  Ansicht  per  modum 
obiectionis  ziemlich  allgemein  und  unbestimmt  berichtet. 
Daß  sie  weder  ganz  angenommen  noch  vollständig  verworfen 
werden  soll,  erhellt  aus  dem  anschaulichen  Bild,  das  zur 
Darlegung  des  eigenen  Standpunktes  überleitet:  ut  igitur 
ex  praedictis  faciliter  videas  veritatem,  ipsam  ab  huiusmodi 
erroribus  quasi  lucem  a  nebulis  segregando,  sciendum,  quod 
anima  ^cit  se  vel  potest  scire  duplici  modo. 

Die  erste  Art  ist  die  Augustinische  unmittelbare  Schau 
der    Seelensubstanz  2),     wie    wir    sie    später    bei   Descartes 

1)  Siehe  Kap.  1  S.  8. 

2)  DeTrin.,  X  10;  Soliloq.,  II  1 ;  De  civit.  Dei,  XI,  26;  vgl.  M. 
Grabmann,  Die  Grundgedanken  des  hl.  Augustinus  über  Seele  und 
Gott,  Köln  1916,  S.  33ff. ;  M.  Baumgartner,  Augustinus,  in  Große 
Denker,  herausgeg.  v.  E.  v.  Aster,  Leipzig  1911,  1.  Bd.  S.  260ff. ;  B. 
Jansen,  Das  Zeitgemäße  in  Augustins  Philosophie  (Stimmen  der  Zeit, 
98.  Bd.  (1919)  S.  191  ff.). 

8 


114  12.  Kapitel 

in  etwa  wiederfinden  ^).  Im  Anfang  der  Ausführungen  wird 
bloß  das  indirekte  Erfassen  der  Seele  in  ihren  Akten  be- 
tont. Es  sind  das  Gedanken,  wie  sie  Augustin  wiederholt 
ausführt,  wenn  er  sich  aus  dem  Zweifel  zum  sicheren  Wissen 
emporarbeitet,  und  wie  sie  in  der  Methode  Descartes'  in 
seinem  Cogito  ergo  sum  wiederkehren.  Hier  stimmen  die 
Aristotelischen  Scholastiker  2)  mit  ihrer  Lehre  von  der  Con- 
scientia  indirecta  völlig  mit  Augustin  überein;  es  ist  eine 
Erwägung,  die  auch  in  Kants  Erkenntnistheorie,  speziell  in 
seinen  Ausführungen  über  die  Transzendentale  Einheit  der  Ap- 
perzeption, wiederkehrt^).  So  heißt  es  auch  bei  Olivi:  pri- 
mus  [modus]  est  per  modura  sensus  experimentalis  et  quasi 
tactualis.  Et  hoc  modo  indubitabiliter  sentit  se  esse  et  vi- 
vere  et  cogitare  et  volle  et  videre  et  audire  et  se  movere 
corpus  et  sie  de  aliis  actibus  suis,  quorum  seit  et  sentit  se 
esse  principium  et  subiectum,  et  hoc  in  tantum,  quod  nullum 
obiectum  nullumque  actum  potest  actualiter  scire  vel  con- 
siderare,  quin  semper  ibi  sciat  et  sentiat  se  esse  suppositum 
illius  actus,  quo  seit  et  considerat  illa.  Unde  et  semper  in 
suo  cogitatu  format  vim  huius  propositionis,  scilicet:  ego 
scio  vel  opioor  hoc  vel  ego  dubito  de  hoc. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Darlegungen  aber,  nachdem 
bereits  die  zweite  schlußfolgernde  Art  der  Selbsterkenntnis 
dargelegt  ist,  entwickelt  sich  dieses  indirekte  Selbsterfassen 
der  Seele  in  ihren  Akten  zur  höheren  Augustinischen  Schau 
der  Seelensubstanz  und  bedeutet  damit  eine  scharfe  Ab- 
sage an  die  scholastischen  Aristoteliker,  z.  B.  an  Thomas 
v.  Aquin.  Cum  ergo  quaeritur,  an  anima  sciat  se  per  essen- 
tiam  .  .  .,    si   intendatur,    quod   sua    essentia    sit   per  se   ob- 


1)  Discours  de  la  ni6thode,  3.  et.  4.  partie ;  Medit.,  l.u.  2.  Medit. 

2)  Kleutgen,  Die  Philosophie  der  Vorzeit,  Bd.  1  S.  167 ff.;  Posch- 
Frick,  Institutiones  Logicae  et  Ontologicae,  p.  417  sqq.;  Alf ons  Lehmen- 
Peter  Beck,  Lehrbuch  der  Philosophie,  I.  Bd.,  4.  Aufl.,  Freihurg  Br. 
1917,  S.  168  ff. 

3)  Kritik  der  Reinen  Vernunft,  Analytik  1  Buch  2.  Hauptstück 
(Berliner  Ausgabe  1904,  3.  Bd.  S.  107 ff.) ;  vgl.  Jansen,  Kants  Lehre 
von  der  Einheit  des  Bewußtseins  (Philos.  Jahrbuch,  32  Bd.  (1919)  S. 
341—354;  Fr.  Sladeczek,  Kants  Lehre  vom  Bewußtsein  (Phil.  Jahr- 
buch, 26.  Bd.  (1913)  tS.  491). 


Die  Selbsterkenntnis  der  Seele  115 

iectum  suae  scientiae,  ita  quod  non  obiciatur  sibi  per  ioter- 
mediam  speciem  memorialem,  sie  in  primo  modo  sciendi 
seit  se  per  essentiam,  id  est,  per  aspectum  et  actum  in 
snam  essentiam  immediate  defixum.  Dieses  unmittelbare 
Schauen  der  Seelensubstanz  kommt  noch  deutlicher  in  fol- 
genden Stellen  zum  Ausdruck,  wo  Augustin  und  Anselm 
zitiert  werden :  in  primo  modo  sciendi  exiguntur  tria,  primum 
est  praesentia  obiecti,  quod  est  ipsa  mens,  secundum  est 
aspectus  sui  intellectus  super  se  ipsam  reflexus  seu  con- 
versus,  tertium  est  ipse  actus  sciendi.  Genau  so  hatte  Olivi 
die  unmittelbare  Erkenntnis  sinnlicher  Gegenstände  erklärt, 
also  stellt  er  die  Unmittelbarkeit  der  Seelenerkenntnis  mit 
jener  auf  gleiche  Stufe.  Es  folgen  zwei  lange  Stellen  aus 
Augustin  De  Trinitate  IX,  11,  12  und  Anselm  Monologium 
cap.  33. 

Die  zweite  Art  der  Selbsterkenntnis  vollzieht  sich  im 
Gegensatz  zur  ersten  unmittelbaren  auf  dem  Weg  des  schluß- 
folgernden Denkens:  secundus  modus  se  sciendi  est  per 
ratiocinationem.  Dem  würde  Aristoteles  zustimmen.  Um 
aber  seinen  ganzen  Gegensatz  zu  ihm  möglichst  scharf  her- 
vorzuheben, fährt  Olivi  fort:  ista  autem  ratiocinatio  nequa- 
quam  incipit  a  speciebus  imaginariis,  nisi  cum  est  falsa  et 
bestialis  .  .  .,  incipit  ergo  primo  ab  iis,  quae  per  primum 
modum  sciendi  .  .  .  de  se  novit  et  tenet,  puta,  quod  ipsa  est 
res  Viva  et  principium  et  subiectum  omnium  actuum  prae- 
dictorum.  Diese  Stelle  und  die  ganze  Art  der  Erklärung 
nötigt  zu  der  Annahme,  daß  die  Erkenntnis  der  geistigen 
Seele  gemäß  dem  primus  modus  nicht  durch  Abstraktion 
aus  den  sinnlichen  Vorstellungsbildern  gewonnen  wird,  son- 
dern ein  unmittelbares  Schauen  ist;  bestätigt  wird  diese 
Erklärung  durch  die  gleich  anzuführenden  weiteren  Erläute- 
rungen. 

Diese  auf  dem  ersten  Weg  gewonnene  Erkenntnis  der 
Seele  bildet  nun  die  reale  Grundlage  für  die  Bestimmung 
ihrer  weiteren  Eigenschaften.  Olivi  faßt  sie  bündig  und 
richtig  in  dem  Ausdruck  „Unkörperlichkeit*  zusammen.  Ex 
hoc  autem  .  .  .  arguit  [anima]  se  transcendere  omne  corpo- 
reum.     Quia  tamen  ad  hoc  recte  et  perspicaciter  arguendum 


116  12.  Kapitel 

oportet  se  scire  defectivam  naturam  praedictorum  corporuin 
et  corporalium  et  sublimem  naturam  praedictorum  actuum 
animae  ac  deinde  comparare  sublimes  perfectiones  praedic- 
torum actuum  ac  defectivam  naturam  corporalium:  ideo 
oportet  animam  prius  investigare  naturam  corporum  et  prae- 
dictorum actuum.  Et  quia  ad  sciendas  naturas  corporum  sunt 
nobis  necessarii  actus  exteriorum  sensuum  et  imagines  tam- 
quam  nuntii  exteriora  intellectui  nuntiantes  et  praesentantes : 
ideo  pro  tanto  sensus  et  imaginatio  sunt  necessarii  ad  hunc 
secundum  modum  sciendi,  quid  sit  anima. 

In  diesen  letzten  Worten  wird  nun  die  Notwendigkeit, 
gerade  aus  den  Akten  das  Wesen  und  die  geistigen  Eigen- 
schaften der  Seele  zu  erschließen,  so  stark  betont,  daß  tat- 
sächlich die  vorgebliche,  auf  dem  ersten  Weg  durch  Au- 
gustinische  Schau  gewonnene  Kenntnis,  die  doch  die  Grund- 
lage für  die  Schlußfolgerungen  der  zweiten  Art  bilden  sollte, 
völlig  ausgeschaltet  wird.  So  münden  denn  auch  hier  in 
höchst  charakteristischer  Weise  Augustinische  und  Aristo- 
telische Erkenntniselemente  friedlich  und  doch  unversöhnt 
ineinander.  Die  Darlegungen  Olivis  über  die  Erkenntnis 
der  Seelensubstanz  haben  daher  etwas  Schillerndes,  Unaus- 
geglichenes und  Unfertiges. 


13.  Kapitel. 

Abschließende  Würdigung. 

Ein  zusammenfassender  Eüekbliek  hat  drei  Fragen  zu 
beantworten:  erstens,  welches  ist  die  sachliche,  spekulative 
Bedeutung  und  der  "Wahrheitswert  der  Ausführungen  Olivis? 
Zweitens,  welches  sind  seine  Quellen  und  wie  stellt  er  sich 
zu  ihnen?  Drittens,  welches  ist  die  geschichtliche,  befruch- 
tende Wirkung  seiner  Erkenntnislehre? 

Olivi  verrät  in  seiner  Erkenntnislehre  ebenso  wie  in 
seinen  andern  Ausführungen  ^)  trotz  aller  Entgleisungen  eine 
hervorragend  philosophisch-spekulative,  schöpferische  Denk- 
kraft; er  ist  ein  ganz  bedeutender  Metaphysiker,  der  sich 
im  Transzendenten,  im  Platonischen  Mundus  intelligibilis 
heimisch  fühlt.  Kelativ  zu  dieser  abstrakten,  unanschau- 
lichen und  begrifflichen  Art  hat  er  sich  noch  ein  gutes  Stück 
Wirklichkeitssinn  und  einen  offenen  Blick  für  die  Erfahrungs- 
welt bewahrt,  wenngleich  ihm  wiederum  manche  apriorische 
Voreingenommenheiten  die  volle  Unbefangenheit  für  die  Er- 
kläruDg  der  nüchternsten  und  einfachsten  Tatsachen  nehmen. 
Das  ist  ein  Schicksal,  das  Olivi  mit  vielen  andern  Denkern, 
einem  Piaton,  Spinoza,  Kant  und  Hegel  teilt. 

Eine  weitere  Gegensätzlichkeit  scheidet  darum  auch 
Bleibendes  und  Bedeutsames,  ewig  Gültiges  und  Wahres 
von  Minderwertigem,  Falschem  und  Schiefem.  Zur  ersten 
Reihe  zählt  zunächst  der  Begriff  der  Wahrheit  als  ein 
intentionales  Erfassen,  ein  abbildendes  Darstellen  und 
subjektives   Erfülltsein   von    einem    wirklichen    Gegenstand,, 


1)  Jansen,  Olivis  Lehre  über  das  Yerhältnis  von  Leib  u.  Seele; 
derselbe,  Ein  neuzeitlicher  Anwalt  der  menschlichen  Freiheit. 


118  13.  Kapitel 

einem  objektiven  Sachverhalt.  Bedeutsam  ist  auch  der 
Grundgedanke  der  CoUigantia  potentiarum  und  der  Versuch, 
mit  ihrer  Hilfe  den  dunklen,  geheimnisreichen  Übergang 
vom  sinnlichen  zum  geistigen  Erkennen  zu  erklären.  Über- 
aus scharfsinnig  ist  vreiterhin  die  Widerlegung  der  Augusti- 
nischen  Erleuchtungstheorie,  in  der  Olivi  sogar  an  die  klas- 
sischen Ausführungen  des  Thomas  v.  Aquin  heranreicht. 

Umgekehrt  steht  seine  Leugnung  des  Einflusses  des 
Objektes  auf  die  Erkenntnisfähigkeiten  nicht  bloß  in  schreien- 
dem Gegensatz  zur  tagtäglichen  Beobachtung,  zum  gesunden 
Menschenverstand  und  zu  den  Erfahrungswissenschaften, 
sondern  seine  positive  Erklärung  der  Causalitas  terminativa 
ist  sogar  ein  offenbarer  Widerspruch.  Eher  ist  schon  zu  be- 
greifen seine  irrtümliche  Behauptung  von  der  virtualis  pro- 
tensio  der  Erkenntniskräfte  zum  Objekt,  die  tatsächlich  einer 
Fernwirkung  gleichkommt. 

Wahrheit  und  Irrtum,  kritischer  Scharfsinn  und  Befan- 
genheit durch  die  Autorität  sind  in  gleicher  Weise  gemischt 
in  seiner  Bekämpfung  der  Spezies,  d.  h.  der  Form,  wie 
sie  von  manchen  Scholastikern  dargelegt  wurden.  Auch  die 
Betonung  der  Sinneserkenntnis  für  die  Bildung  von  Erfah- 
rungsbegriffen und  die  Heranziehung  eines  verhältnismäßig 
reichen  Beobachtungsmaterials  für  philosophische  Deduktionen 
wird  durch  die  Loslösnng  der  Erkenntnis  der  geistigen  Welt 
von  der  Erfahrung  beeinträchtigt.  Diese  Loslösung  und  die 
damit  behauptete  unmittelbare  Schau  übersinnlicher  Wesen 
ist  aber  zu  untergeordneter  Natur,  als  daß  sie  Olivis  kräf- 
tiges Eintreten  für  die  Möglichkeit  der  Metaphysik  und  das 
intellektuelle  Erfassen  geistiger  Werte  und  übersinnlicher 
Wirklichkeiten  in  ihrer  philosophiegeschichtlichen  Bedeutung 
irgendwie  herabdrücken  könnte. 

Was  den  zweiten  Punkt  betrifft,  so  verrät  Olivi  eine 
umfassende  Quellenkunde.  Seinen  Augustin  beherrscht 
er  einfachhin.  Anders  ist  es  mit  Aristoteles.  Er  weiß  viele 
Stellen  herbeizubringen  und  doch  zieht  sich  durch  seine 
Erkenntnislehre  wie  durch  andere  Partien  seiner  Philosophie 
ein  merkwürdiger  Zwiespalt  hindurch:  in  manchen  Ausfüh- 
rungen gibt  er  den  Geist   des  Stagiriten   klar   und   treffend 


Abschließende  Würdigung  119 

wieder,  in  andern  dagegen  entstellt  er  ihn  völlig;  so  auch 
in  der  Erkenntnislehre.  In  bezug  auf  andere  Thesen,  z.  B. 
über  die  Ewigkeit  der  Schöpfung  (q.  5)  und  das  Wirken 
Gottes  (q.  6)  konnte  ich  nachweisen,  daß  er  die  Aristotelische 
Lehre  nicht  aus  den  ersten,  ungetrübten  Quellen  schöpfte, 
sondern  sie  in  neuplatonischer  Färbung  vorfand.  Eine  be- 
friedigende Erklärung  dieser  teils  richtigen  teils  falschen 
Wiedergabe  der  Aristotelischen  Lehre  vermag  ich  noch  nicht 
zu  geben.  Daß  Olivi  die  Perspectiva  Arabum  treffend  ver- 
wertet hat,  wurde  schon  mehrmals  erwähnt.  Mannigfache 
neuplatonische  Anschauungen,  wie  die  vom  Ausstrahlen 
eines  geistigen  Lichtes,  die  Kontroversen  zwischen  Natur- 
philosophen und  Mathematikern  über  Emission  und  Spe- 
zies beim  Sehen,  spiegeln  sich  deutlich  in  seinen  historischen 
Einleitungen  wieder.  Im  Zusammenhang  mit  Augustin  zitiert 
er  wiederholt  hier  wie  auch  sonst  Anselm,  dessen  treuen, 
pietätvollen  Erklärer. 

Weit  bedeutsamer  als  all  diese  Quellenkunde  ist  Olivis 
überaus  genaue  und  feinsinnige  Kenntnis  des  philosophischen 
Milieus  seiner  Zeit.  Natürlich  zitiert  er  entsprechend  dem 
unpersönlichen  Zug  der  Scholastik  keine  Namen  von  Zeit- 
genossen. Indes  verrät  er  ein  so  feines  Einfühlen  in  den 
Geist  der  damaligen  Schulen,  Kämpfe  und  Strömungen,  zeigt 
er  eine  solche  Belesenheit,  daß  ich  hier  wiederhole,  was 
ich  anderswo  ausgesprochen  habe,  daß  seine  Schriften  für 
den  Forscher  des  dreizehnten  Jahrhunderts  ein  fruchtbares 
Feld  reicher  Ausbeute  sein  dürften.  Freilich  wird  eine 
genaue  Kenntnis  des  philosophischen  Geisteslebens  jener 
Zeit  vorausgesetzt,  um  die  geschichtliche  Tragweite  gele- 
gentlich hingeworfener  Bemerkungen,  temperamentvoller  Aus- 
lassungen, unpersönlich  gehaltener  Aufzählungen  und  der 
Charakteristik  verschiedener  Denkrichtungen  ermessen  zu 
können. 

Um  sodann  die  Stellungnahme  Olivis  zu  seinen  Vorlagen 
nicht  bloß  feststellen,  sondern  auch  wertend  beurteilen  zu 
können,  muß  man  ihn  wie  billig  aus  seiner  Zeit  heraus  er- 
klären und  darum  zuerst  das  Verhalten  der  Scholastik  zur 
philosophischen    Autorität     ins    Auge   fassen.     Sie  bedeutet 


120  13.  Kapitel 

für  den  mittelalterlichen  Denker  unvergleichlich  mehr  als 
für  den  neuzeitlichen:  willig  ordnete  er  sich  ihr  unter,  nur 
ungern  wich  er  von  ihr  ab.  Dieser  Zug  hing,  wie  Baeumker 
ausführt  ^),  einmal  mit  der  Rezeptivität  jenes  Jugendzeit- 
alters der  christlichen  Wissenschaft,  sodann  mit  der  Bedeu- 
tung der  Tradition  und,  fügen  wir  hinzu,  mit  der  Pflege  der 
Theologie  in  jener  Zeit  zusammen,  für  die  die  Autorität  die 
eigentliche  Beweisquelle  bildet.  Natürlich  fallen  aus  diesem 
Rahmen  manche  vorwiegend  selbständige  und  kritische 
Denker  in  mehrfacher  Beziehung  heraus. 

Zu  diesen  muß  Olivi  wie  in  andern  Lehrpunkten  so 
auch  in  der  Erkenntnislehre  gerechnet  werden.  Daß  er  sich 
gegenüber  Aristoteles  und  den  Aristotelikern  seiner  Zeit 
seine  Unabhängigkeit  bewahrt  hat,  bedarf  keines  weiteren 
Nachweises.  Es  genügt,  sein  Verhalten  gegen  Augustin  zu 
beleuchten,  um  an  diesem  typischen  Beispiel  seine  Stellung- 
nahme zur  philosophischen  Autorität  schlechthin  zu  kenn- 
zeichnen. Augustinus  ist  ja  sein  eigentlicher  Führer,  zu  dem 
er  ehrerbietig  aufschaut.  Zunächst  muß  hier  zwischen  der 
konventionellen  Form  und  dem  sachlichen  Inhalt  unter- 
schieden werden.  Daß  Olivi  auch  dann,  wenn  er  die  Au- 
gustinischen  Bahnen  verläßt,  seinen  Lesern  klar  zu  machen 
sucht,  er  gebe  den  Gedanken  seines  Lehrers  getreu  wieder, 
empfindet  er  ebenso  wenig  wie  ein  Thomas  v.  Aquin  und 
andfere  Scholastiker  als  eine  Unwahrheit  oder  Unaufrichtig- 
keit.  Es  genüge  die  Feststellung  dieser  psychologisch  merk- 
würdigen Tatsache,  auf  ihre  Erklärung  kann  hier  nicht  ein- 
gegangen werden.  Um  so  mehr  muß  auffallen,  daß  er 
trotzdem  die  Augustinische  Lehre  von  der  Sinneserkenntnis 
wiederholt  in  aller  Form  bekämpft.  Das  allein  schon  ver- 
stößt gegen  die  Gewohnheiten  jener  Zeit. 

In  bezug  auf  den  Inhalt  seiner  Lehre  folgt  Olivi  in 
vielen  Grundauffassungen  dem  hl.  Augustin,  mit  ausdrücklicher 
Berufung  auf  ihn  und  mit  reichem  literarischen  Apparat: 
so  in  der  Leugnung  des  Einflusses  des  Körperlichen  auf 
Geistiges,   in   der  Ablehnung  der  immateriellen  Spezies,   in 


1)  Die  christliche  Philosophie  des  Mittelalters,  S.  339  ff. 


Abschließende  Würdigung  121 

der  Behauptung  der  unmittelbaren  Schau  des  Geistigen,  in 
der  intuitiven  Erkenntnis  der  Seele,  in  der  Aktivität  der 
Seelenfähigkeiten.  Diese  Seite  ist  ebenso  charakteristisch 
für  seine  Eigenart  wie  die  andere  :  in  andern  bedeutenden 
Lehrstücken  weicht  er  von  ihm  ab,  so  vor  allem  in  der  Illu- 
minationstheorie, in  der  Erklärung  der  Sinneserkenntnis,  in 
der  Leugnung  der  realen  Einwirkung  des  Objektes  auf  das 
erkennende  Subjekt.  In  andern  Punkten  führt  er  Augusti- 
nische  Gedankenmotive,  wie  er  selbst  hervorhebt,  kräftig 
und  entschieden  weiter,  so  besonders  in  der  Colligantia  po- 
tentiarum  und  in  der  Erkenntnis  der  Seele  durch  schluß- 
folgerndes Denken. 

Über  die  tatsächliche  Wirkung  drittens,  die  von  Olivis 
Erkenntnislehre  ausgegangen  ist,  lassen  sich  einstweilen  nur 
mehr  oder  minder  wahrscheinliche  Vermutungen  aufstellen. 
So  bedeutend  Olivis  Spekulation  auch  ist  und  so  mannig- 
fache Berührungspunkte  er  auch  mit  spätem  Denkern  hat, 
so  dürfte  er  doch  wenig  wirksamen  Einfluß  auf  sie  ausge- 
übt haben.  Der  Grund  dieser  Erscheinung  ist  höchst  ein- 
fach: als  leidenschaftlicher  Führer  der  Spiritualen,  die  eine 
gefährliche,  verwirrende  Partei  im  Franziskanerorden  be- 
deutete und  später  in  den  Fratizellen  in  eine  förmliche 
Irrlehre  ausartete,  war  er  dem  berechtigten  Argwohn,  stän- 
diger, scharfer  Bewachung  und  strengster  Ordenszensur  aus- 
gesetzt. Nach  seinem  Tode  setzte  erst  recht  ein  heftiger, 
teilweise  ungerechter  Kampf  gegen  seine  Person  und  seine 
Schriften  ein,  die  schließlich  zur  Einziehung  und  Verbren- 
nung der  letzteren  und  zur  Verurteilung  seiner  Irrlehre  auf 
dem  Vienner  Konzil  (1312)  führte.  Damit  war  auch  sein 
wissenschaftlicher  Name  in  den  Augen  des  gläubigen  Mittel- 
alters gebrandmarkt. 

Trotzdem  hat  die  Colligantia-Theorie  weiter  gewirkt.  Petrus 
de  Trabibus  und  Suarez  folgten  ihr,  Scotus  erwähnt  sie  bereits. 
Wenn  die  Erforschung  der  mittelalterlichen  Philosophie  im 
selben  Maße  voranschreitet,  wenn  sie  vor  allem  monogra- 
phisch so  weiter  arbeitet  wie  in  den  letzten  Jahrzehnten, 
so  ist  nach  der  bevorstehenden  Veröffentlichung  der  philo- 
sophischen Schriften  Olivis  zu  hoffen,  daß  noch  mancherlei 


122  13.  Kapitel 

Yerbindungslinien  aufgedeckt  werden,  die  von  Olivi  zu  spä- 
teren Scholastikern  hinüberführen.  Zu  diesen  dürfte  die 
Beziehung  Olivis  zur  späteren  Franziskanerschule  und  be- 
sonders zu  Scotus  zählen.  Auch  bei  Olivi  ist  nach  unsern 
Ausführungen  jene  Annäherung  vom  Augustinismus  zum 
Aristotelismus  zu  bemerken,  die  verschiedenen  Jüngern  Mit- 
gliedern der  altern  Pranziskanerschule,  wie  Richard  v.  Middle- 
town  und  Petrus  Anglicus,  eigentümlich  ist  und  die  von 
Alexander  v.  Haies  und  Bonaventura»  zu  Scotus  hinführt. 
Vor  allem  aber  bliebe  zu  untersuchen,  ob  nicht  die  Leug- 
nung der  Spezies  bei  Olivi  auf  die  verwandten  Lehren  der 
Nominalisten   im   vierzehnten  Jahrhundert  eingewirkt  hat^). 


1)  Die  vom  Verfasser  dieser  Arbeit  vorbereitete  Yeröffentlichung 
der  Opera  philosophica  Olivis,  deren  Druck  dank  dem  hochherzigen 
Entgegenkommen  der  Franziskaner  in  Quaracchi  rüstig  voranschreitet, 
■wird  die  Möglichkeit  bieten,  seine  philosophiegeschichtliche  Stellung 
und  Bedeutung  klar  herauszuarbeiten. 


Nachtrag  zu  Seite  30  Anmerkung: 

Durch  die  Güte  des  P.  Franz  Pelster  erhielt  ich  nachträglich 
folgende  ivertvolle  Mitteilung,  die  keinen  Zweifel  mehr  übrig  läßt, 
daß  Olivi  und  Petrus  de  Trabibus   zwei  verschiedene  Personen  sind. 

Jacobus  de  Trisantis. 
Florenz  Naz.  ConV.  Soppressi  F.  3.  606. 
Lectura  fratris  Jacobi  super  sentencias. 

Der  Kodex  ist  in  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  ge- 
Bchrieben.  Bei  der  Erklärung  des  ersten  Buches  zitiert  Jacobus  den 
Petrus  de  Trabibus  neunmal:  f.  lO^b,  16^^,  24^»,  29va,  33rbj  35 vb,  57vb, 
58^»,  82rb,  bei  der  Erklärung  des  zweiten  Buches  sechsmal:  91  v»,  92^», 
93^»,  97^b,  125rb,  l54va. 


Personenverzeichnis. 


Abu  Ishäk  al  Bitrüschi  14. 

Aegidius  v.  Rom  76. 

Alanus  v.  Lille  96. 

Albert  d.  Große  5,  6,  14,  35,  38. 

Alexander  v.  Haies  11,  36,  122. 

Alfäräbi  38. 

Alhazen  6,  12,  14,  68,  73,  94,  95, 
96,  97. 

Anselm  4,  8,  12,  43,  44,  45,94, 106. 

Apollinaris  76. 

Aquasparta  8, 20,  27,  51  f.,  54, 64, 68. 

Aristoteles  2 ff.,  7, 11  f.,  14,  16,  18f., 
20,  21  f.,  27  f.,  31,  35,  37,  38,  45, 
46,  51,  53,  67,  72,  77,  83,  91,  99, 
100,  102,  105,  106  ff.,  109,  110, 
112,  118  f.,  120. 

Augustinus  1  ff.,  8,  11,  16  f.,  18  f., 
21  ff.,  27,  28  f.,  30,  31,  33,  34,  35, 
37  f.,  39,  40,  43,  45,  50,  53,  54, 
55,  56.  57  f.,  67,  72,  83,  93  f.,  98, 
99, 101, 102  ff.,  106, 107, 110, 113ff., 
118,  120f. 

Aureolus  8,  42,  64,  67,  68. 

Averroes  12,  14,  20,  38. 

Avicenna  12,  14,  38. 

Bacon  Boger  2,  5,  6,  7,  13,  14,  16, 
20,  38,  68,  73,  91,  95,  96,  97. 

Baconthorp  57. 

Baeumker  2, 3, 6, 7, 13, 14,  15, 16, 32, 
41, 48, 51, 56, 64, 68,  72, 96,  97, 120. 

Balthasar  17  f. 

Bann  wart  10. 

Barach  38. 


Bartholomaeus  Anglicus  13,  73. 
Bauer  7,  68,  96,  97. 
Baumgartner  1,  2,  3,  4,  5,  6,  7,  13, 

14,  35,  38,  41,  43,  51,  56,  57,  59  f., 

83,  96,  113. 
Baur  6,  7,  41,  68,  73,  94,  96. 
Beck  114. 
Bernheim  30. 
Biel  56. 

Boethius  96,  102. 
Bonaventura  2,  4,  6,  11,  27,  35,  36, 

53,  68,  122. 
Bonifaz  VIII.  17. 

Caietan  76. 
Capreolus  76. 
Chatelain  3,  19. 
Coelestin  V.  17. 
Compton  86. 
Condillac  105. 

Daniels  8,  27. 

Deniflo  3,  19. 

Denzinger  10. 

Descartes  33,  39, 41, 54, 98,  102,  114. 

Dietrich  v.  Freiberg  7,  14,  73. 

Dreiling  3,  41,  64,  67. 

Dürr  91. 

Duhem  14. 

Durandus  8,  42,  56,  57,  64,  68,  76. 

Dionysius-Pseudo  6,  15. 

Eberle  27. 

Ehrle  1,  2, 4,  10  f.,  18,  26,  27, 29,  84. 

Eisler  1. 


124 


FersonenTerzeichnis 


Endres  38. 
Eriugena  13. 

Feder  30. 
Felder  73. 
Ferrarius  76. 
Fidelis  a  Fanna  11,  26. 
Fischer  4,  8,  41,  43,  44,  45. 
Franz  v.  Assisi  10. 
Frick  65,  91,  114. 
Fröbes  7,  91,  96,  97. 

Galen  56. 

Gaul  2,  5,  6. 

Geulincx  54. 

Geyser,  7,  23,  41,  43,  91. 

Gloßner  7. 

Gottfried  t.  Fontaines  2. 

Grabmann  4,  5,  6, 8, 27,  41,  43,  51  f., 

54,  64,  68,  76,  87,  113. 
Gregor  v.  T^yssa  56. 
Gregor  v.  Rimini  8. 
Grosseteste  6,  7,  68,  73,  94,  96. 
Guttmann  44. 

V.  Hartmann  42,  91. 

Hegel  117. 

Heinrich  v.  Gent   5,  8,  35,  57,  64, 

67,  68  f. 
Heinrichs  49. 
Hergenröther  10. 
T.  Hertling  2,  4,  28,  103. 
Hessen  103. 
Höver  2,  32. 
Honecker  43,  91. 
Horten  38. 

Hugo  V.  St.  Victor  12,  59. 
Hume  3,  105. 
Husserl  23,  43. 

Jacobus  Trisanto  30,  84,  122. 
Jandunus  76. 
Javellus  76. 
Isaac  Israeli  44. 
Isaac  T^arbonensis  76. 

Kant,  13,   41,  49,   51,   72,  99,   110, 
114.  117. 


Keicher  5. 

Kirsch  10. 

Kleutgen  8,  41,  43,  48,  77,  114. 

Krebs  7. 

Kugler  41,  64. 

Lappe  3,  41. 

Lehmen  114. 

Leibniz  47,  51,  53  f.,  98,  110. 

Liebert  43. 

Locke  101,  105,  109. 

Longwell  68. 

Lotze  43. 

Lutz  4,  32. 

Malebranche  54. 
Mandonnet  2,  3,  5,  19,  48. 
Martin  4. 

Michael  Scottus  14. 
Minges  8,  27,  35. 

Nazarius  86. 

Nicolaus  V.  Amiens  96,  102. 

JS^icolaus  V.  Autrecourt  3. 

Occam  3,  8,  42,  56,  64,  67,  68. 
Öliger  17. 

Palmieri  90. 

Pecham4,7, 13, 20,35  f.,  43, 44,73,95. 

Pesch  65,  91,  114. 

Petrus  Anglicus  122. 

Petrus  Lombardus  59. 

Petrus  Peregrinus  14. 

Petrus  de  Reblaio  26. 

Petrus     de    Trabibus    27  f.,     29  f., 

84  ff.,  121,  122. 
Philoponus  14. 
Piaton  2,  4,  5,  6,  13,  22,  33,  38,  43, 

56,  58,  98,  HO,  117. 
Plotin  13,  56,  58. 
Porphyrius  56,  58. 
Portaliö  103. 
Prado  86. 
Proclus  15. 

Renan  4  f. 

Richard    v.    Middletown   8,    27  f.^ 
35,  122. 


Personenverzeichnis 


125 


Risner  6,  73. 
Boger  Marston  8,  27. 
Bousselot  41. 
RubiuB  86. 

Sbaralea  10,  30,  84. 

Scheler  51. 

Schneider  2,  5,  6,  14,  38. 

Schopenhauer  76. 

Scoraille  87. 

Scotus  2,  5,  8,  16,  17,  23,  27,  36, 

52  f.,  57  f.,  60  f.,  86,  121,  122. 
Seneca  56. 
Sentroul  49. 
Siebeck  32,  38. 
Silvester  Maurus  86. 
Sladeczek  114. 

Spettmann7,  13,  20,  32,  35  f.,  41,  44. 
Spinoza  13,  98,  102,  117. 
Stöckl  35,  59,  64. 
Suarez  35,  37,  48,  53,  56,  57,  58, 

64,  76,  86  ff.,  121. 

Tellez  87. 
Templer  3,  19. 

Thomas  v.  Aquin  2,  3,  5,  7,  8,  12, 
14,  16,  19,  23,  25,  28  f.,  30,  35, 


38,  44,  48,  53,  65,  67,  76,  77,  84, 
89,  100,  104,  109,  110  f.,  112,  114, 
118,  120. 
Tongiorgi  90. 

Ueberweg   1,  2,  3,  4,  5,  6,  13,  14, 

56.  57,  96. 
Urraburu  86  f. 

Vogl  68. 

Wadding  10,  30,  84. 

Werner  8,  32,  87. 

Wilhelm  v.  Auvergne  4,  8,  35,  51, 

57,  59  f.,  82  f. 

Wilhelm  de  la  Mare   2,   7,   8,    12, 

19,  25,  35,  112. 
Wilhelm  v.  Moerbeke  14. 
Wilhelm  v.  Ware  27. 
Witelo  6,  7,  14,  64,  68,  73,  95. 
Würschmidt  7. 
Würsdörfer  8. 
de  Wulf  1,  4,  8,  57,  64,  67,  68  f. 

Zeller  48. 
Zigliara  11,  26. 
Zisch6  2. 


Druck  von  Paul  Rost  &  Co.,  Bonn. 


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CAN'AOA, 


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